2.4.1 Phänomen 1: Die therapeutische Dimension der Meditation
Die Art und Weise, wie wir in der Meditation mit unseren Gefühlen, Erfahrungen und Problemen umgehen, bewirkt eine Veränderung, der man durchaus einen therapeutischen Effekt zuschreiben kann.
Ich würde sie sogar als eine höhere Form der Psychotherapie und Heilung bezeichnen.
Jemand, der gelernt hat, alles, was in seiner Psyche hochkommt, auszuhalten und anzunehmen, um es letztendlich loszulassen, kann eine tiefgreifende Heilung erleben.
Hinzu kommt die Ressource von Gottes Gnade und Liebe, die alles zu heilen vermag.
2.4.2 Unterschiedliche Vorgehensweisen im Umgang mit negativen Gefühlen
Im Folgenden betrachten wir verschiedene Ansätze, wie wir mit negativen Gefühlen und belastenden Erfahrungen umgehen können.
Das konditionierte Vorgehen
Betrachten wir vereinfacht, wie wir gewöhnlich mit negativen Gefühlen und unangenehmen Empfindungen umgehen:
Wir sind so konditioniert, dass wir versuchen, uns so schnell wie möglich von ihnen zu befreien.
Wenn wir Verspannungen spüren, massieren oder bewegen wir die betroffenen Muskeln, um sie zu lösen. Ähnlich reagieren wir auf unangenehme Gefühle – häufig versuchen wir, sie durch Reden oder Nachdenken zu verbessern.
Eine andere Strategie ist Ablenkung: Wir beschäftigen uns mit etwas anderem in der Hoffnung, dass die negativen Gefühle nicht wiederkommen.
Ein weiteres verbreitetes Muster ist die Kompensation: Wir versuchen, das unangenehme innere Erleben durch äußere Handlungen oder Erfolge zu überdecken – zum Beispiel durch übermäßige Leistungsorientierung, Perfektionismus oder das Streben nach Anerkennung. Diese kompensatorischen Verhaltensweisen geben uns kurzfristig ein Gefühl von Kontrolle oder Wert, doch sie können die Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Bedürfnis nicht dauerhaft ersetzen.
Wenn eine tiefere psychodynamische Ursache hinter den Gefühlen steckt, werden sie immer wieder auftauchen.
Heilung durch Aufarbeitung der Ursprungserfahrung
In meiner therapeutischen Arbeit als systemischer Therapeut wurde mir immer deutlicher, dass Veränderung weniger durch Reflexion und Nachdenken, sondern vielmehr durch Wahrnehmung geschieht.
Reine Wahrnehmung der inneren Vorgänge lässt keine Illusionen aufrechterhalten.
Je mehr ein Klient in der Lage ist, seine inneren Prozesse, Einstellungen, Gefühle und Zusammenhänge bewusst wahrzunehmen, desto weniger muss der Therapeut eingreifen. Die eigene Wirklichkeit offenbart sich durch Wahrnehmung – und nichts gibt einen kraftvolleren Anstoß zur Veränderung als die klare Erkenntnis der Realität.
In der Psychotherapie gibt es verschiedene Methoden, um diesen Prozess zu unterstützen.
Eine klassische Herangehensweise besteht darin, den Klienten innerlich zur Ursprungserfahrung – dem Entstehungspunkt des Problems – zu führen. Beispielsweise kann konsequente Wahrnehmung der Gefühle einen inneren Suchprozess auslösen.
Durch die Frage „Woher kenne ich dieses Gefühl?“ oder „Wann habe ich es zum ersten Mal in meinem Leben empfunden?“ treten wir bewusst in Kontakt mit der ursprünglichen Erfahrung.
Sobald diese Verknüpfung bewusst wird und die emotionale Verbindung hergestellt ist, können wir die Erfahrung aufarbeiten. Dies wird als regressive Bearbeitung bezeichnet.
Konsequente Achtsamkeit und Annahme in der Meditation
Der erste Schritt in der Meditation ähnelt dem Vorgehen in der regressiven Bearbeitung: Wir nehmen das Gefühl und seine Energie bewusst wahr und hören auf, darüber nachzudenken.
Reine Wahrnehmung statt Nachdenken
Durch Meditation lernen wir, uns nicht von unserer gewohnten Konditionierung leiten zu lassen.
Die erste Konditionierung, die wir überwinden müssen, ist das automatische Nachdenken.
Sobald wir etwas erleben, das ein negatives Gefühl auslöst, beginnen wir unbewusst, die Situation gedanklich zu analysieren. Wir versuchen, das Gefühl durch innere Dialoge und Reflexion aufzulösen – doch oft funktioniert das nur begrenzt und verhindert, dass wir tiefer gehen.
Wer hat nicht schon einmal erlebt, dass er nachts nicht schlafen kann, weil er unablässig über eine unangenehme Situation nachdenkt? In solchen Momenten fällt es besonders schwer, die Gedanken loszulassen.
In der Meditation hilft uns das Meditationsobjekt – zum Beispiel die Wahrnehmung des Atems –, unser Bewusstsein in der gegenwärtigen Realität zu verankern. Indem wir uns auf eine physische Empfindung konzentrieren, entziehen wir uns der gedanklichen Konditionierung.
Wir lassen unser Bewusstsein nicht von gedanklicher Reflexion und analytischer Lösungssuche vereinnahmen, sondern bleiben bei der unmittelbaren Erfahrung des gegenwärtigen Moments. Dadurch können wir das Gefühl als reine körperliche Empfindung – sei es eine körperliche Reaktion oder eine energetische Bewegung – bewusst spüren und in diesem Spüren verweilen.
Die Überwindung der Abwehr gegen unangenehme Gefühle
Die nächste Konditionierung, die wir auflösen müssen, ist unsere instinktive Abwehr gegen alles Unangenehme.
Wir sind es gewohnt, unangenehme Gefühle so schnell wie möglich loswerden zu wollen.
Durch Meditation lernen wir, negative Empfindungen und Gefühle so anzunehmen, wie sie sind. Wie ich bereits im vorherigen Kapitel dargelegt habe, ist konsequente Achtsamkeit im gegenwärtigen Moment der erste Schritt, um Gottes Präsenz bewusst zu erfahren.
Wir versuchen nicht, die Realität zu verändern, und lassen uns nicht ablenken. Stattdessen bleiben wir bei unseren Gefühlen und schenken ihnen bewusste Aufmerksamkeit.
Das ist für mich die wahre Bedeutung von Selbstliebe: sich selbst bewusst wahrzunehmen, ohne sich von negativen Gefühlen bestimmen zu lassen.
2.4.3 Erfahrungen, die in der Meditation hochkommen
Wenn wir in der Meditation lernen, nach innen zu gehen und uns zu öffnen, tauchen zunächst viele Inhalte aus unserem Unterbewusstsein auf.
Das ist gut und unvermeidlich. Psychologisch betrachtet handelt es sich um einen Verarbeitungsprozess. Wenn wir achtsam bleiben, können wir diesen Prozess zulassen und geschehen lassen – ohne aktives Zutun.
Achtsamkeit entfaltet hier die stärkste positive Wirkung.
Wir werden erleben, dass Bilder von Situationen und die dazugehörigen Gefühle hochkommen. Nach einer Weile kehrt wieder Ruhe ein. Jedes Mal ist es eine befreiende Erfahrung.
Durch diesen Prozess beginnt sich unser Gemüt zu reinigen und sich für den Weg in die Tiefe vorzubereiten.
Meditation bedeutet nicht, negative Gefühle zu verdrängen oder „wegzumeditieren“.
Wenn wir das Gefühl haben, dass wir Emotionen durch Meditation verdrängen, befinden wir uns nicht in der richtigen Haltung.
Reine Achtsamkeit ist frei von jeglicher willentlichen Anstrengung – sie ist weder für noch gegen etwas gerichtet. Ein solches Empfinden zeigt uns, dass wir das Annehmen noch nicht vollständig verinnerlicht haben.
Wenn wir das Phänomen, dass Inhalte aus dem Unterbewusstsein aufsteigen, gar nicht erleben, kann das darauf hindeuten, dass wir uns zu sehr konzentrieren.
In diesem Fall wäre es an der Zeit, die Konzentration etwas zu verringern.
Heilung durch Gottes Gnade
Die letztendliche Heilung geschieht durch das Erfülltwerden mit der Liebe Gottes.
In dieser mystischen Erfahrung erleben wir eine Erneuerung, die immer mehr zu unserem Seinszustand wird. Durch die Liebe kann alles in unserem Gemüt und unserer Seele heilen.
Ein eigener Abschnitt wird sich noch mit dem Empfang von Gottes Gnade befassen, daher belasse ich es hier bei diesem Hinweis.