1.2. Missverständnisse über mystische Erfahrungen

Wenn man erstmals von mystischen Erfahrungen hört, wirken sie oft wie etwas Unwirkliches – Phänomene in einer Art Trancezustand, in dem allerlei erlebt und imaginiert werden kann. In Wirklichkeit sind mystische Erfahrungen jedoch genau das Gegenteil: Sie sind ein Erwachen in die Realität.  

Untersucht man das Alltagsbewusstsein, stellt man fest, dass wir uns oft in einem Trancezustand befinden. Unser Bewusstsein ist die meiste Zeit in einer inneren Welt aus Gedanken und Bildern gefangen und nur zu einem geringen Teil mit der realen Wahrnehmung der Wirklichkeit verbunden. Zwar behaupten wir, unsere Gedanken und Vorstellungen basierten auf der Realität, doch bleiben es letztlich Konstrukte – Gedanken und Vorstellungen, können auch weit von der Wirklichkeit entfernt sein. Ein Film über einen Fluss ist kein Fluss. Es bleibt ein Film, den wir nach Belieben ändern können, ohne dass sich der Fluss tatsächlich verändert.  

Mystik bedeutet daher zunächst, aus der Gedanken- und Bilderwelt herauszutreten und die physische Wirklichkeit bewusst wahrzunehmen. Ein Weg, der diesen Schritt nicht geht, ist meines Erachtens keine Mystik. Solche Ansätze könnten als Esoterik oder Trancemethoden bezeichnet werden, jedoch nicht als echte Mystik.  

Das Mysteriöse für mystisch Unerfahrene ist, dass sich die Mystik im zweiten Schritt der geistigen Wirklichkeit öffnet. Dieser Bereich bleibt gewöhnlichen Menschen verschlossen, weshalb Berichte über mystische Erfahrungen für sie oft irreal erscheinen. Der mystische Weg jedoch führt zur Erfahrung der Wirklichkeit – sowohl der physischen als auch der geistigen.  

Gebet und die Gedankenwelt

Selbst das Glaubensleben und die Gebete vieler religiöser Menschen finden oft überwiegend in der Gedanken- und Bilderwelt statt. In diesem Raum können religiöse Vorstellungen und Gefühle erzeugt werden, die jedoch nicht zwangsläufig einen Bezug zur Realität haben.  

Was ist ein Trancezustand?

Ein Merkmal eines Trancezustands ist der Fokus auf ein bestimmtes Element, während andere Aspekte ausgeblendet werden. Die entscheidende Frage in der Mystik ist, ob das Bewusstsein im Gemüt – also in der inneren Gedanken- und Bilderwelt – oder in der wahrnehmbaren Wirklichkeit verankert ist.

Ein Beispiel: Man könnte in Trance fragen: „Welche Farbe hat dein Atem?“ Um diese Frage zu beantworten, muss man in einen imaginierten Zustand eintreten, denn niemand kann in der Wirklichkeit die Farbe seines Atems wahrnehmen. Das ist reine Fantasie.  

Das bedeutet nicht, dass Trancezustände schlecht sind. Sie haben ihren Platz und können etwa in der Psychotherapie sehr erfolgreich genutzt werden. Doch sie haben nichts mit Mystik zu tun. In der Wirklichkeit können wir die Bewegung des Brustkorbs wahrnehmen, aber keine Farbe sehen. Dies zu unterscheiden, ist äußerst wichtig.  

© BLI - Thomas Schuh 2025