1.8. Vollkommenes Bewusstsein und der Weg der Achtsamkeit

In meiner Jugend hatte ich ein tiefgreifendes Erlebnis. Mit 16 Jahren las ich ein Buch von P. D. Ouspensky über die Lehre Gurdjieffs. Darin wurde das Konzept des Selbsterinnerns beschrieben. Inspiriert davon fasste ich den Entschluss, für eine Zeit bewusst nicht mehr zu denken, sondern nur wahrzunehmen. Mein Ziel war es, den ganzen Tag über nicht zu denken – ein Vorhaben, das zwar unmöglich ist, das ich jedoch mit aller Entschlossenheit verfolgte.

Ich praktizierte dies mit großer Intensität und Willenskraft. Diese Herangehensweise ist nicht unbedingt zu empfehlen, doch nach etwa zwei Wochen hatte ich meine erste mystische Erfahrung. Nach dem Joggen mit einem Freund frühstückten wir gemeinsam. Ich hielt eine Tasse Kaffee in der Hand, als mich ein überwältigendes Gefühl erfasste: Ich bin jetzt da! Ich lebe!

Die Wahrnehmung der Tasse in meiner Hand wurde so intensiv, dass mir Tränen der Freude über das Gesicht liefen. Mein Herz war offen und in direktem Kontakt mit der Wirklichkeit. Vollständig in diesem Moment zu sein, ist eine überaus kraftvolle und tiefgehende Erfahrung.

Doch eine solche Erfahrung lässt sich nicht allein durch Willenskraft hervorrufen. Es ist immer auch eine Gnade Gottes, ein Geschenk, das uns gegeben wird. In diesem Moment offenbarte Gott mir die Kraft der Achtsamkeit.

Die Kraft der Gegenwart: Geist, Körper in Liebe vereint

Auf dem Pfad der Kontemplation bewegen wir uns in diese Richtung: Wir wollen unser Bewusstsein und damit unser Herz für die Wirklichkeit öffnen. Dazu müssen die Prozesse im Gemüt zur Ruhe kommen.

Alles, wonach wir als religiöse Menschen streben – Demut, Dankbarkeit, innere Freude, ein Herz voller wahrer Liebe – entfaltet sich in diesem Zustand auf natürliche Weise. Die geistige Realität eröffnet sich erst, wenn wir eins mit der physischen Wirklichkeit geworden sind. Sie ist nicht durch Konzepte oder Fantasien über Geist und Gott zu finden.

Wahre geistige Entwicklung durch Verwurzelung in der Realität

Esoterische Praktiken versuchen oft, über Trancemethoden höhere Bewusstseinszustände zu erreichen. Solche Ansätze können mystische Erfahrungen schneller hervorrufen, doch sie basieren nicht immer auf der Wirklichkeit. Oft spielt viel Fantasie eine Rolle. Ich bestreite nicht, dass dabei geistige Phänomene auftreten können, doch besteht die große Gefahr, sich in einer mystischen Fantasiewelt zu verlieren. Man sammelt Erfahrungen, ohne in wahrer Liebe und im Herzen zu wachsen. Viele verlieren die Demut und entwickeln Stolz auf ihre Erlebnisse – ein Gift für den geistigen Fortschritt.

Buddha war sich dieser Gefahr sehr bewusst, ebenso wie christliche Mystiker, die davor warnten.

Der Unterschied auf dem Weg der Achtsamkeit besteht darin, dass wir in der Wirklichkeit geerdet bleiben. Dies ist psychisch gesund, stabilisiert uns und ermöglicht es, Gott überall wahrzunehmen. Dies schützt uns nicht zuletzt vor verfrühter geistiger Offenheit.  Selbst bei einfacher körperlicher Arbeit, wie etwa beim Schaufeln von Kies, können wir Gottes Präsenz mit jeder Zelle unseres Körpers fühlen.

Gottes Liebe und Präsenz ziehen in unseren Körper ein. Die Geist-Körper-Einheit beschreibt einen Zustand, in dem wir mit der geistigen Realität durch den Körper eins geworden sind. Nur wenn unser Geist im Körper angekommen ist, können wir wahre Nächstenliebe praktizieren. Das ist es, was Jesus meinte, als er sagte, wir sollen zum Tempel Gottes werden.

© BLI - Thomas Schuh 2025