2.4.8 Selbsterinnern und Auflösen der Ego-Identifizierung

Das Thema Bewusstseinsentwicklung mag stellenweise sehr realitätsfremd und abgehoben klingen. Es sind jedoch ganz natürliche Erfahrungen und Entwicklungen, die uns für die Liebe öffnen. Diese folgenden Phänomene und Erfahrungen erkläre ich, um die inneren Veränderungen noch deutlicher zu machen.

Durch Meditation und die Übung der Achtsamkeit gelangen viele Menschen zu einem Phänomen, das G. Gurdjieff (P.D. Ospensky) als Selbsterinnern bezeichnet und beschrieben hat.

Gurdjieff behauptet, dass ohne das Erwachen des Bewusstseins und die Fähigkeit des Selbsterinnerns, keine geistige Entwicklung stattfinden kann. Im normalen Alltagsbewusstsein sind wir so sehr von Gewohnheiten gesteuert, dass der Geist gar keine Chance hat, dem zu entfliehen.

Wenn ich das auch nicht ganz so absolut sehe, ist dieses Phänomen des Selbsterinnerns bedeutend. Aus meiner Erfahrung führt die Übung der Achtsamkeit dazu, dass ich realisiere, dass ich Geist bin und einen Körper habe. Die Wahrnehmung ist nicht nur die Wahrnehmung, sondern ich gelange zu dem Bewusstsein, dass ICH das Objekt wahrnehme. Dadurch kann ein Geben und Empfangen zwischen dem Geistigen Selbst und dem Objekt entstehen. Es fühlt sich fast so an, als ob man sich selbst in dem Objekt wiederfindet. 

G. Gurdjieff erklärt auch, dass durch dieses Geben und Empfangen eine Energie generiert wird, die für das geistige Wachstum erforderlich ist. Nach einer gewissen Praxis kann man spüren, wie der Geist aufgeladen wird.

Erfahrungen mit Selbsterinnern in der Wahrnehmung

Nachdem man das Phänomen einmal erlebt hat, empfindet man die normale, unbewusste Wahrnehmung, wie im folgenden Diagramm dargestellt, als Wahrnehmung in eine Richtung. Wir sind uns des Objektes bewusst, das wir wahrnehmen. Wer das Objekt wahrnimmt, wissen wir zwar, es ist uns aber in diesem Moment nicht bewusst.

 

Normale, unbewusste Wahrnehmung

Normale unbewusste Wahrnehmung

 

Selbsterinnern in der Wahrnehmung

Das folgende Diagramm stellt die Wahrnehmung beim Selbsterinnern dar. Es ist mir bewusst, dass ich das Objekt wahrnehme.

Selbsterinnern in der Wahrnehmung

In dieser Form der bewussten Wahrnehmung beginnen wir zu realisieren, dass wir nicht nur der physische Körper sind, sondern dass wir Geist sind. Dies fühlt sich sehr vertraut und kraftvoll an, auch wenn wir das vorher noch nie so erlebt haben.

Selbsterinnern ist sozusagen noch eine weitere Stufe der Achtsamkeit, die uns zum Bewusstwerden des Geistes führt. Wozu ist das sinnvoll?

Auflösung der Identifizierung

G. Gurdjieff und auch der Buddhismus beschreiben ein weiteres Phänomen: Die Auflösung der Identifizierung.

Herkömmlich sind wir der Ansicht, dass es gut ist, wenn wir uns mit dem, was wir gerade tun identifizieren. Dies meint zum einen, dass wir die Tätigkeit mit ganzer Überzeugung, Motivation und Leidenschaft tun. Dies ist sehr erstrebenswert. Sich jedoch damit zu identifizieren würde bedeuten, dass wir es in dem Bewusstsein tun, dass wir das sind was wir gerade tun. Das ist jedoch nicht der Fall. Wir sind ein Mensch und tun eine Tätigkeit.

Im normalen Alltagsbewusstsein haben wir uns vergessen. Wir haben nur die Sache, die wir tun im Bewusstsein. In diesem  Zustand ist das Geistige Selbst weitgehend abwesend, was wir aber nicht empfinden. Hier sind wir, wie schon erklärt, dafür anfällig, dass negative Erfahrungen getriggert werden, auf Gedankenzüge aufzuspringen und auch von der Geistigen Welt beeinflusst zu werden.

Im Zustand des Selbsterinnerns bleiben wir uns bewusst. Hier lösen wir die Identifizierung mit dem, was wir tun auf und kommen zu dem Bewusstsein, dass ich tue.

Wiederholt die Frage, wozu dient dies?

Auflösung der Identifizierung mit Ego und dem Physischen Gemüt

Wir sind nicht nur mit den Dingen identifiziert, die wir tun, sondern auch mit dem, was wir denken und fühlen. Dies ist im unreifen Zustand jedoch sehr vom Physischen Gemüt bestimmt. Somit sind wir normalerweise mit dem Physischen Gemüt identifiziert. Dies ist auch sehr ähnlich mit dem was wir Ego nennen. Wir haben gehört, dass das gefallene Gemüt egozentriert ist.

Unity of mind and body is impossible unless you practice love’s absolute values, where you give yourself for the sake of others completely. Please discard self-centeredness. It is the root of fallen nature.

P. 1519, par. 2

Wenn wir nicht das sind, was wir tun, was wir denken und was wir fühlen, was sind wir dann? Wir sind ein Geistiges Wesen. Indem wir uns von der Identifizierung von dem lösen, was wir tun, was wir fühlen und was wir denken, können wir uns mit unserer ursprünglichen Identität identifizieren. Wir sind das Geistige Gemüt und Herz.

Selbstverleugnung und die Auflösung der Identifizierung

Viele Religionen behaupten, dass wir uns selbst verleugnen müssen. Jesus sagt, dass wir zuerst sterben müssen, um zum ewigen Leben zu kommen.

Was genau muss sterben? Das Ego, das gefallene Gemüt muss sterben. Wenn wir uns vollkommen damit identifizieren, dann müssen wir uns verleugnen und müssen sterben. Es fühlt sich zumindest so an, da wir nicht wissen, wer wir wirklich sind. Wenn wir jedoch die Identifizierung mit dem Ego auflösen, dann können wir uns mit unserem wahren Selbst identifizieren. Tatsächlich ist das keine Identifizierung mehr, sondern wir erkennen uns selbst und sind wir selbst. Dann sind das gefallene Gemüt und das Ego in der Objektposition und können vom Geistige Gemüt aus gereinigt und geleitet werden.

Oft stehen religiöse Menschen vor der Situation, dass ihr Herz etwas von ihnen verlangt, was ihr Ego nicht überwinden kann. Dies zu überwinden fühlt sich an, als ob man emotional stirbt. Die Bereitschaft, diese Art von Sterben oder Selbstverleugnen zu durchlaufen, ist stellenweise im Entwicklungsprozess nötig. Dies sind oft die größten geistigen Entwicklungsschritte.

Das Sterben des Egos soll jedoch nicht ewig fortdauern. Irgendwann sollte das Ego aufgelöst sein und wir werden aus unserem wahren Wesen, unserem Ursprünglichen Gemüt leben.

© BLI - Thomas Schuh 2023