2.4.a Phänomen 1: Die dunkle Nacht der Seele

„Die dunkle Nacht der Seele“ ist eine vorwiegend christliche Bezeichnung für ein Phänomen, das in allen mystischen Traditionen bekannt ist. Es handelt sich um eine Phase tiefster innerer Verlassenheit, in der die Nähe Gottes nicht mehr spürbar ist.

Mystiker, die durch ihr tiefes Gebetsleben bereits die innere Glückseligkeit der göttlichen Präsenz erfahren haben, erleben diesen Zustand besonders schmerzhaft, wenn er plötzlich schwindet. Es ist ein Gefühl tiefer Einsamkeit und Verlassenheit. Man könnte diese Phase auch als geistige Krise oder tiefe Glaubenskrise bezeichnen. Sie geht oft mit großen Zweifeln und einer Ernüchterung einher. Doch alle tiefgläubigen Menschen durchleben solche Krisen und erfahren nach deren Überwindung eine Vertiefung und Erneuerung ihres Glaubens. Der Glaube wird dadurch reifer und erwachsener. Die dunkle Nacht der Seele ist somit ein natürlicher Teil des Weges zu Gott.

Natürliche Schwankungen in der Nähe zu Gott

Es gibt auch natürliche Schwankungen in der empfundenen Nähe zu Gott. Emanuel Swedenborg beschreibt, dass sogar Engel im Himmel nicht immer in gleicher Nähe zu Gott leben. Er bezeichnet alle Geistwesen als Engel, auch verstorbene Menschen. Sie durchlaufen Phasen, in denen sie stärker auf sich selbst bezogen sind. In solchen Zeiten empfinden sie tiefe Traurigkeit und sehnen sich danach, dass diese Phase schnell vorübergeht. Danach folgen wieder Perioden, in denen sie Gott nahe sind und von Glückseligkeit erfüllt werden.

Sun Myung Moon spricht in diesem Zusammenhang von den vier Jahreszeiten des Gemüts, in denen sich unsere Gefühle auf natürliche Weise verändern. Diese zyklischen Veränderungen finden nicht nur über lange Zeiträume hinweg statt, sondern sogar innerhalb eines Tages:

   Morgen – Frühling
   Mittag/Nachmittag – Sommer
   Früher Abend – Herbst
   Nacht – Winter

Jede dieser Tageszeiten enthält wiederum in sich selbst diese vier Jahreszeiten. Diese Schwankungen entstehen durch die Rotation des Tores des Gemüts (Geistiges Gemüt). Wenn unsere geistige Empfindsamkeit geöffnet ist, spüren wir, wann wir Gott im Gebet besonders tief erreichen können. Ich selbst erlebe oft, dass mich zu unterschiedlichen Tageszeiten eine tiefe Sehnsucht nach Gebet erfasst – manchmal am Nachmittag, manchmal mitten in der Nacht, etwa um 3 Uhr morgens, wenn ich durch Träume geweckt werde.

Diese natürlichen Schwankungen sind jedoch keine „dunkle Nacht der Seele“. Sie sind vielmehr Ausdruck einer inneren Bewegung.

Die dunkle Nacht der Seele ist eine tiefgreifende Krise

Die dunkle Nacht der Seele hingegen ist eine massive spirituelle Krise. Sie ist Teil eines tiefen Wiederherstellungsprozesses, der eine grundlegende innere Veränderung bewirken soll. Durch diese Phasen hindurchzugehen, bereitet uns auf eine große Gnade vor – ein wunderbares Geschenk erwartet uns. Jede dunkle Nacht der Seele enthält eine Lektion und eine Botschaft. In einer solchen Phase sollten wir daher aufmerksam darauf achten, was Gott uns lehren möchte.

© BLI - Thomas Schuh 2025