2.7.1 Phänomen 4: Auflösung der Ego-Identifikation

Die Auflösung der Ego-Identifikation ist eine Betrachtungsweise die aus mystischen Traditionen, insbesondere Hinduismus und Buddhismus stammt. Sie beschreibt einen inneren Prozess in dem wir uns von dem selbstzentrierten Selbst lösen und unser Bewusstsein erweitern. 

In diesem Zustand wird das "Ich" nicht mehr als getrennt oder isoliert wahrgenommen, sondern als verbunden mit dem universellen Geist oder der Ganzheit (Gott) und allen Wesen. 

Wir beginnen zunächst mit einer philosophischen Betrachtung.

Im Buddhismus bedeutet die Überwindung des Egos, die Illusion eines festen Selbst zu durchschauen und egozentrische Anhaftungen loszulassen. 

Das Ego ist nicht zu töten, sondern zu durchschauen. Es ist eine Illusion, ein Prozess, kein festes Ding.

Jack Kornfield

Im Buddhismus führt Achtsamkeit, Weisheit und Mitgefühl zur Auflösung der Identifikation mit vergänglichen Gedanken und Gefühlen – und damit zur inneren Freiheit.

Unterschiedliche Bezeichnungen für das wahre Wesen und das Ego

Der Buddhismus unterscheidet zwischen dem wahren Wesen und dem Ego. 

Im Göttlichen Prinzip entsprechen dem die Begriffe „ursprüngliches Gemüt“ oder Herz und „gefallene Natur“, ähnlich wie im christlichen Sprachgebrauch. 

Das Göttliche Prinzip beschreibt vier Hauptaspekte der gefallenen Natur, die ihren Ursprung im Sündenfall haben. Da nur diese vier Hauptaspekte genannt werden, bleiben viele weitere daraus resultierende Aspekte unerwähnt. 

Der Buddhismus hingegen benennt 108 Trübungen und Befleckungen – darunter Gier, Hass und Verblendung –, die es zu überwinden gilt.

2.7.2 Exkurs: Unsterblichkeit der Seele, Reinkarnation und Karma

Mit den Gedanken zur Auflösung des Egos berühren wir bedeutende spirituelle Fragen, die ich in diesem Exkurs behandeln möchte. Dazu werde ich verschiedene Perspektiven unterschiedlicher Religionen zu den Themen Unsterblichkeit der Seele, Reinkarnation und Karma gegenüberstellen. 

Mir geht es zum einen darum, über den Tellerrand hinauszublicken, zum anderen darum, die Herkunft von Glaubensinhalten aufzuzeigen.

Viele spirituelle Suchende werden von kommerziellen Angeboten angezogen, in denen oft altes Wissen lediglich neu verpackt und ansprechend aufbereitet wird. Viele machen sich nicht die Mühe, sich mit den ursprünglichen Quellen der großen Religionen auseinanderzusetzen.

Ich habe meine Zweifel, ob man auf diesem Weg wirklich bis zu Gott geführt werden kann. Denn die unpopulären Aspekte des spirituellen Weges - wie Demut, Reue und Wiedergutmachung - bleiben in solchen Angeboten meist außen vor. 

Doch es führt kein Weg zu Gott, der daran vorbeigeht.

Es besteht auch die Gefahr, sich in immer neuen spirituellen Angeboten zu verzetteln und dabei den Kern des Weges aus den Augen zu verlieren. 

Echte Spiritualität lässt sich nicht konsumieren – ja, sie bedeutet sogar das Gegenteil: in Bescheidenheit, Einfalt und die Stille nach innen zu gehen.

Das Hauptziel auf einem echten spirituellen Weg ist nicht, dass es uns kurzfristig gut geht, sondern Gott zu finden. Dazu müssen wir manchmal geliebte Dinge loslassen und opfern. 

Hier zeigt sich eine deutliche Unterscheidung in der Ausrichtung. 

Wir können uns immer wieder fragen, was wir wirklich suchen, um unsere Ausrichtung zu erkennen und gegebenenfalls zu korrigieren.

Gleichzeitig möchte ich nicht verurteilen, wer durch moderne spirituelle Angebote erste Berührungspunkte findet. Jeder Weg beginnt irgendwo - und manchmal führt ein oberflächlicher Einstieg letztlich doch in größere Tiefe. 

Entscheidend ist, dass wir uns immer wieder fragen, ob wir der Wahrheit näherkommen, ob unser Herz sich wandelt und ob wir wirklich bereit sind, auch den unbequemen Teil des Weges zu gehen. 

Letztendlich müssen wir dahin gelangen, dass wir von Gott selbst in unserem Inneren geführt werden. Kein Angebot, kein Lehrer und kein Meister kann dies ersetzen. 

Dies jedoch setzt eine wirkliche innere Transformation voraus.

Der Lehrer, der euch am nächsten steht, ist euer eigenes, ursprüngliches Gemüt. Ihr solltet lernen, auf das zu hören, was euer ursprüngliches Gemüt euch sagt. 

Diesen Zustand müsst ihr erreichen. Der buddhistische Ausdruck wäre, dass ihr euere innere Natur reinigen müßt.

Wer aufrichtig sucht, wird früher oder später die Tiefe entdecken, die echte spirituelle Traditionen bereithalten.

Unsterblichkeit der Seele, Reinkarnation und Karma im Buddhismus

Der Buddhismus geht in seiner Sichtweise der Auflösung des Egos noch einen Schritt weiter: Es gibt kein dauerhaftes Selbst und keine unsterbliche Seele, die von Leben zu Leben wandert – und somit auch keine bleibenden Geistwesen.

Wiedergeburt wird durch das Gesetz des Karma erklärt – die Wirkungen von Taten, Worten und Gedanken. Diese hinterlassen eine Art energetische Spur, die nach dem Tod weiterwirkt. Man kann es sich wie eine Kerzenflamme vorstellen, die eine neue Kerze entzündet: Die Flamme ist nicht dieselbe, aber durch Ursache und Wirkung verbunden. 

Die Ahnenverehrung im Buddhismus scheint auf den ersten Blick im Widerspruch zum Glauben an die Nicht-Existenz einer ewig bestehenden Seele zu stehen. Da es im Buddhismus kein dauerhaftes Selbst gibt, existieren die Ahnen nicht als seelische Persönlichkeiten in einer geistigen Welt.

Verehrt wird vielmehr die spirituelle und kulturelle Verbundenheit mit den Vorfahren – ein Ausdruck von Dankbarkeit und Respekt. Dabei fließen auch kulturelle und konfuzianische Einflüsse mit ein.

Die Vorstellung einer vollständigen Auflösung des Selbst und die buddhistische Lehre von der Nicht-Existenz einer unsterblichen Seele ist für viele Menschen schwer nachvollziehbar. 

Ich persönlich kann diese Vorstellung insofern einordnen, als sie aus der mystischen Erfahrung des Buddha hervorgegangen ist. In dieser Erfahrung erlebte er die vollkommene Einheit und die Auflösung des persönlichen, individualistischen Ichs, was ihn zur vollkommenen Freiheit führte. 

Um Menschen auf dem Weg zur Erleuchtung zu begleiten, kann diese zutiefst mystische Perspektive hilfreich sein, da sie hilft, individuelle Anhaftungen konsequent loszulassen. 

Es gibt auch buddhistische Schulen (Volksbuddhismus, Tibetischer Buddhismus, Yogācāra-Schule, Reines-Land-Buddhismus), die seelenähnliche Konzepte kennen und von zwischenzeitlichen Existenzbereichen in einer geistigen Welt ausgehen, die Himmel und Hölle ähneln.

Auch in diesen Traditionen endet die individuelle Existenz letztlich in der vollständigen Auflösung im Zustand des Nirvana.

Reinkarnation im Zen-Buddhismus

Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass Reinkarnation im Zen-Buddhismus kaum eine Rolle spielt. Die Praxis konzentriert sich ganz auf die direkte Erfahrung des gegenwärtigen Moments, auf Achtsamkeit, Zazen (Sitzmeditation) und die Auflösung des Ich-Gedankens im Hier und Jetzt. 

Viele Menschen, die in Japan mit Zen-Religionsunterricht aufgewachsen sind – wie etwa meine Frau –, berichten, dass Wiedergeburt dort nie thematisiert wurde. 

Im Zen geht es weniger um metaphysische Spekulationen, sondern darum, das eigene Denken zu durchschauen und unmittelbar zu erwachen.

Erinnerung an frühere Leben durch Tancemethoden

Im Westen gibt es Trancemethoden, mit denen sich Menschen an frühere Leben zu erinnern glauben.

Aus buddhistischer Sicht wären solche „Erinnerungen“ jedoch keine Rückschau eines ewigen Ichs, sondern Projektionen des Ego-Bewusstseins - letztlich also Illusionen.

Trancezustände, die Bilder und Vorstellungen über das Selbst hervorbringen, gelten grundsätzlich als Illusionen des Egos und nicht als spirituelle Einsichten, die zur Befreiung führen.

Im Hinduismus hingegen gilt die Seele (Ātman) als ewig und wird von Leben zu Leben wiedergeboren. Erinnerungen an frühere Leben sind hier grundsätzlich möglich, gelten aber als seltene Gnade oder als Ausdruck fortgeschrittener spiritueller Reife. 

Sie sind also aus hinduistischer Sicht nicht einfach durch Techniken wie Hypnose beliebig herbeizuführen.

Wiedergeburt und geistige Wiederkehr

Viele Menschen im Westen, die an Reinkarnation glauben, verbinden diese mit der Vorstellung einer unsterblichen Seele, die nach dem Tod in einem neuen Körper geboren wird – eine Idee, die vor allem aus dem Hinduismus stammt. 

Im klassischen Christentum selbst ist Reinkarnation jedoch nicht vorgesehen.

Auch das Göttliche Prinzip geht von einem einmaligen Erdenleben aus, in dem der Mensch durch gelebte Beziehungen geistig reift. Zudem entfaltet er sich als Paar zum vollständigen Abbild Gottes, was sich über die Familie hinweg bis zur gesamten Menschheitsfamilie ausdehnt.

Nach dem Tod setzt sich diese Entwicklung in der geistigen Welt fort - jedoch ohne körperliche Wiedergeburt. Der Mensch bleibt eine ewige Seele mit Verantwortung.

Im Göttlichen Prinzip gibt es keine körperliche Wiedergeburt, sondern eine geistige Wiederkehr (Auferstehung durch Wiederkehr). Dabei können Geistwesen durch eine spirituelle Beziehung mit auf der Erde lebenden Menschen weiterwachsen. 

Bedeutung des Körpers für geistiges Wachstum

Dieser Prozess basiert auf der Übertragung von Vitalitätselementen vom Körper zum Geist, die durch gute Taten der Lebenden übermittelt werden. 

Diese Vitalitätselemente sind für das grundlegende Wachstum des Geistes wichtig und notwendig, um seine Entwicklung auf einer höheren geistigen Ebene fortzusetzen.

Im Christentum ist der Körper ebenfalls wichtig für das geistige Wachstum, da er als Tempel des Heiligen Geistes betrachtet wird (1. Korinther 6,19). Der physische Körper wird als Werkzeug gesehen, durch das der Mensch Gottes Gebote ausführt und spirituelle Disziplinen wie Gebet, Nächstenliebe und Glaube praktiziert. 

Im Christentum geht es darum, den Körper in Einklang mit göttlichen Prinzipien zu bringen und in der physischen Welt nach Gottes Willen zu leben, um sich geistig zu entfalten und das ewige Leben zu erlangen.

Auch im Buddhismus und Hinduismus ist der Körper bis zu einer gewissen Stufe notwendig für das geistige Wachstum, da er dem Geist ermöglicht, durch Erfahrungen, Handlungen und Achtsamkeit zu lernen und sich zu entwickeln. 

Der physische Körper dient als Mittel, um Karma zu erfahren und spirituelle Lektionen zu erlangen, die für die Befreiung und Erleuchtung erforderlich sind.

Karma im Hinduismus

Im Hinduismus bedeutet Karma das Gesetz von Ursache und Wirkung auf moralischer Ebene: Jede Handlung – sei sie gut oder schlecht – hinterlässt eine Spur im Bewusstsein (Karmaspur) und beeinflusst das zukünftige Schicksal eines Menschen.

Karma wirkt über mehrere Leben hinweg: Die guten oder schlechten Taten eines Menschen bestimmen nicht nur das jetzige Leben, sondern auch zukünftige Wiedergeburten. Ziel ist es, durch gutes Karma spirituell zu reifen und letztlich Moksha – die Befreiung aus dem Kreislauf von Geburt und Wiedergeburt (Samsara) – zu erreichen.

Je nach philosophischer Schule im Hinduismus löst sich die Seele nach der Befreiung (Moksha) entweder in das göttliche Absolute auf (Advaita Vedanta) oder lebt als individuelle Seele in ewiger Einheit mit Gott in der geistigen Welt weiter (Vishishtadvaita, Dvaita).

Entsprechung von Karma im Christentum

Auch im Christentum existiert ein geistiges Prinzip von Ursache und Wirkung. Es zeigt sich in der biblischen Lehre von Saat und Ernte – was ein Mensch sät, das wird er auch ernten (Gal 6,7). Gute oder schlechte Taten tragen geistliche Folgen, die sich nicht nur im irdischen Leben, sondern auch in der geistigen Welt nach dem Tod auswirken.

Weitergabe von Schuld und Segen auf die nächste Generation

Zudem kennt das Christentum die Vorstellung, dass Segen und Schuld durch die Erblinie weitergegeben werden. Die Nachkommen können unter den Folgen früherer Sünden leiden – oder am geistigen Erbe guter Vorfahren teilhaben. Dieses Prinzip ähnelt in seiner Wirkung dem karmischen Verständnis von übertragenem Verdienst oder Belastung durch die Ahnen.

Im Hinduismus gibt es auch eine Vorstellung davon, dass karmische Auswirkungen über Generationen hinweg wirken können, sowohl im positiven als auch im negativen Sinne, und diese können durch Rituale oder spirituelle Praktiken verändert werden.

Im Buddhismus ist Karma individuell und es gibt keine direkte Lehre, dass Sünden oder negatives Karma von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden, obwohl das Umfeld durch das Verhalten der Vorfahren beeinflusst werden kann.

Gemeinsamkeiten verschiedener spiritueller Traditionen

Die Gemeinsamkeit, die wir in allen Religionen finden, ist, dass im Laufe der spirituellen Entwicklung das egozentrierte Selbst zu einem selbstloseren, in Liebe mit allem Verbundenen Wesen wird.

Das Leben geht nach dem Tod weiter - mit Ausnahme des Buddhismus - als eine unsterbliche Seele. 

Das Wachstum einer unvollständig entwickelten Seele geht weiter bis zur vollständigen Befreiung in der Einheit mit dem Göttlichen – sei es durch Wiedergeburt oder geistige Wiederkehrt.

Entscheidend ist, dass es ein Ursache-und-Wirkungsprinzip gibt, und unser Handeln im Guten und Schlechten Folgen hat – sowohl für uns selbst als auch für unsere Nachfahren.

Die Einheit mit Gott und in der vollkommenen Liebe ist das zentrale Ziel aller Traditionen. 

Wie wir uns die Dinge im Detail vorstellen, ist von zweitrangiger Bedeutung, solange wir die zentrale Richtung im Blick behalten und auf diesem Weg vorankommen.

2.7.3 Selbstverleugnung

Im christlichen Kontext wird der Prozess der Auflösung der Ego-Identifikation oft als Selbstverleugnung beschrieben. 

Dabei wird jedoch meist nicht deutlich, dass es eine Ebene in uns gibt, die wir nicht verleugnen müssen.

Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es retten.

Lukas 9,24

Das Leben, das wir retten sollen, ist das geistige Leben unseres wahren Selbst. 

Das Leben, das wir verlieren, ist lediglich das Leben des Egos. 

Da das Ego eng mit dem physischen Körper verbunden ist, könnte es auch als das physische Leben bezeichnet werden. Der geistige Prozess erfordert – solange wir mit dem Ego identifiziert sind – die Bereitschaft zu sterben, um in Kontakt mit dem göttlichen Wesen wiedergeboren zu werden.

Verleugnen sollen wir also das Ego, die selbstbezogene oder gefallene Natur.

Doch woran erkennen wir die Seite, die unsere ursprüngliche oder göttliche Natur – unser wahres Selbst – repräsentiert?

Eine Hilfestellung könnte sein, bestimmte Bedürfnisse, Verlangen und Verhaltensweisen in die Kategorien ursprüngliche Natur und gefallene Natur einzuordnen. Doch wenn wir uns ehrlich und tiefgehend reflektieren, merken wir, dass dies nicht ausreicht. 

Solange wir nur versuchen, Persönlichkeitsstrukturen zu kategorisieren, bleiben wir auf einer oberflächlichen Ebene des individuellen Ichs, 

und können die eigentliche Transformation nicht vollziehen.

Wir brauchen Kontakt zu unseren tieferen Wesensebenen, die über das individuelle Ich hinausgehen, um uns wirklich von der gefallenen Natur zu lösen.

Der fehlende Zugang zu tieferen Wesensebenen verursacht viele Probleme

Viele Probleme, die religiöse Menschen verursacht haben, entstanden, weil sie Verhaltensweisen und Menschen oberflächlich kategorisieren, ohne wirklichen Zugang zur tieferen Ebene gefunden zu haben – der Ebene, auf der wir substantiell mit Gottes Liebe in Resonanz kommen können.

Im wahren Kontakt mit Gott wären negatives Urteilen und überhebliches Richten über andere nicht mehr möglich – und würden keinen Sinn mehr ergeben. 

Wenn du das Ich und das Mein aufgibst, was brauchst du dann noch mit Feinden oder Freunden?

Shantideva (Bodhicaryāvatāra, Kapitel 8, Vers 97)

Aus der Verbindung mit Gottes Liebe erhalten wir eine völlig neue Sicht auf uns selbst und andere Menschen.

Wir empfinden uns nicht mehr als vollständig getrennte Individuen, sondern als Teil einer untrennbaren Einheit.

2.7.4 Egoismus und Selbstlosigkeit

In Religionen spielt die Entwicklung zu einem selbstloseren Menschen eine zentrale Rolle. Sie beschreibt die grundlegende Richtung, die eine echte spirituelle Entwicklung nehmen muss.

Um diesen Prozess in uns zu vollziehen, müssen wir zwischen Selbstbezogenheit und Selbstlosigkeit unterscheiden. 

In der Praxis erweist sich das jedoch oft als schwierig.

Die Problematik der Unterscheidung zwischen Selbstlosigkeit und Selbstbezogenheit

Veränderung im Prozess der Entwicklung

Ein Säugling kann nur auf seine eigenen Bedürfnisse fokussiert sein. Man könnte sagen, dass der Mensch in einem maximal egoistischen Zustand geboren wird. 

Wir erwarten jedoch, dass Menschen im Laufe ihrer Entwicklung zunehmend an das Gemeinwohl denken und sich dafür einsetzen. 

Daher sollte man bei einer Bewertung immer auch das Alter mit berücksichtigen. 

Bei Kindern und Jugendlichen tun wir das in der Regel ganz selbstverständlich. 

Doch bei Erwachsenen unterscheiden wir meist nicht mehr zwischen einem Dreißigjährigen und einem Fünfzigjährigen – obwohl man bei gesunder Entwicklung mit fünfzig eigentlich selbstloser sein müsste als mit dreißig.

Selbstloses Verhalten bedeutet noch nicht, selbstlos zu sein

Auch viele soziale Aktivitäten befriedigen unsere eigenen Bedürfnisse: Wir suchen positive Rückmeldungen, Anerkennung, Wertschätzung, wollen nicht alleine sein oder Teil einer Gemeinschaft sein. 

Sozial engagiert zu sein bedeutet also nicht zwangsläufig, selbstlos zu sein. 

Deshalb müssen wir unsere Motivation stets reflektieren und hinterfragen.

Negative Effekte der Unterscheidung bei bestimmten Psychodynamiken

Es gibt eine Ausnahme, in der der Versuch, selbstloser zu werden, nicht hilfreich ist.

Menschen, die in der Phase der Sozialisierung innerhalb der Familie zu früh zu viel Verantwortung übernommen haben. Zum Beispiel, wenn wir aus Angst vor dem Zerbrechen der Familie begonnen haben, uns emotional um einen Elternteil zu kümmern. 

Dies kann zu einer ungesunden Bezogenheit auf andere führen. In solchen Fällen spüren wir stärker, was andere brauchen, und verlieren uns selbst aus dem Blick. 

Doch das ist kein gesunder Altruismus – es bleibt Teil des Egos.

Dies sollte nicht verwechselt werden. 

Menschen mit einer solchen Psychodynamik müssen zuerst lernen, sich selbst zu spüren und mit sich in Kontakt zu kommen, bevor sie zu Gott finden können. 

Hier würde der bewusste Versuch, selbstloser zu werden, lediglich die bestehende psychodynamische Struktur verstärken, anstatt die spirituelle Entwicklung zu fördern.

Laut dem Göttlichen Prinzip sorgt sich auch das ursprüngliche Gemüt in gewissem Maße um sich selbst.

Das Göttliche Prinzip stellt zudem klar, dass der Zweck des Ganzen grundsätzlich auch den Zweck des Einzelnen umfasst. Bis zu einem gewissen Grad gehören der Fokus auf Selbsterhalt und Vitalität also zur ursprünglichen Natur.

Auch hier ist das Ziel des religiösen Weges, ein selbstloses Wesen zu werden. Das ursprüngliche Gemüt wird belebt und von der gefallenen Natur befreit, sodass es zur primären Motivation unseres Seins wird.

Fazit

Wenn wir genauer hinschauen, wird deutlich: Die Einteilung in Egoismus und Selbstlosigkeit kann leicht zu Missverständnissen führen. 

Solche Kategorien verleiten zu vorschnellen Urteilen und können im inneren Prozess zu Fehlentscheidungen führen. 

Gerade im feinen Prozess der Selbsterkenntnis verzerren sie oft den Blick, verstellen den Zugang zu einer tieferen Auseinandersetzung und behindern damit eine echte Selbsterkenntnis.

Diese Einteilung dient lediglich als grobe Orientierung. 

Es ist unbestritten, dass wahres geistiges Wachstum selbstlose Menschen hervorbringt.

Doch nicht jeder Blickwinkel kann uns zuverlässig durch diesen inneren Prozess leiten.

Ein Blickwinkel, der den Weg zur Selbstlosigkeit unterstützt

Auf meinem spirituellen Weg hat mir die Suche nach meinem selbstlosen wahren Selbst mehr geholfen als die äußere Bewertung meines Verhaltens.

Im Innersten sind wir selbstlose Wesen. Dieses innerste Wesen muss lediglich belebt und von dem oberflächlich selbstzentrierten Ego befreit werden.

Dieser Weg führt uns durch einen inneren Suchprozess, in dem wir unsere Ego-Identifikation erkennen und sie allmählich loslassen.

Das Ergebnis ist eine natürliche Transformation hin zur Selbstlosigkeit – durch die Befreiung unseres selbstlosen innersten Wesens.

Im Folgenden möchte ich die Sichtweise näher beschreiben, die mir auf meinem Weg geholfen hat – und die innere Transformation, die damit einherging.

2.7.5 Meine Betrachtung: Wahres Wesen und Ego

In meinem inneren Prozess hat mir besonders die folgende Betrachtungsweise geholfen, weil sie die verschiedenen Ebenen unseres Wesens klar unterscheidet.

Wir sind das wahre Selbst und haben ein Ego. 

Das Ego entsteht aus dem Verhaftetsein in unserem persönlichen, individuellen Denken, Fühlen und Wollen – sowie aus unseren persönlichen Wünschen und Bedürfnissen. 

Dieses Konstrukt von „Selbst“ und „Ich“ ist so stark, dass es uns schwerfällt, uns davon zu lösen. 

Doch genau dieses Loslassen oder Erweitern unseres Bewusstseins ist notwendig, um unser ursprüngliches Wesen zu erkennen und zu befreien. 

Es ist notwendig, um uns für Gott zu öffnen.

In der Mystik nähern wir uns diesem Phänomen in neuer Tiefe. 

Wir erkennen, dass das Problem darin besteht, dass wir uns zunächst vollständig mit unserem persönlichen Denken, Fühlen und Wollen identifizieren – doch dies macht nur den oberflächlichen Teil unseres Wesens aus. 

Durch mystische Praxis löst sich diese Identifikation langsam auf. Dieser Prozess geschieht schrittweise durch Meditation und Achtsamkeit. 

In der Meditation nehmen wir Gedanken und Gefühle wahr, lassen unser Bewusstsein jedoch nicht von ihnen einnehmen. Unser Bewusstsein erweitert sich auf den Bereich unseres Wesens, der jenseits von Denken, Fühlen und Wollen liegt. 

Eine interessante Frage lautet: Was sind wir, wenn wir nicht unser persönliches Denken und Fühlen sind? 

Was bleibt von uns, wenn Denken, Fühlen und Wollen den Nullpunkt erreichen? 

Diese Frage führt uns zu unserem wahren Selbst.

Solange wir uns noch mit diesem individualistischen Selbst identifizieren, können wir Gott in uns nicht wirklich erkennen.

2.7.6 Das Ego verursacht Unfreiheit und Leid

Das Ego möchte wahrgenommen, respektiert und wertgeschätzt werden und für andere besonders wichtig sein. Es strebt danach, dass seine Leistungen bis in alle Ewigkeit anerkannt und bewundert werden. 

Das Ego ist eitel. 

Es fühlt sich verletzt, wenn wir nicht gesehen oder ernst genommen werden. Es wird eifersüchtig und beleidigt, wenn es ignoriert und vergessen wird, während andere belohnt werden. Es wird getriggert, wenn es scheinbar jemand abwertet – auch wenn es nicht so gemeint war.

Es will am liebsten immer gewinnen. Wenn es einmal verliert, ist es geknickt und frustriert. Das Ego hat Angst, etwas zu verlieren, und ist gierig danach, immer mehr zu bekommen.

Wie stolz ist es auf seine eigene Meinung, obwohl es nur eine begrenzte Perspektive einnehmen kann! 

Es vergleicht sich ständig mit anderen, versucht, sich aufzuwerten und sich besser zu fühlen, indem es andere abwertet. 

Es strebt nach Lob und Anerkennung von anderen Menschen, bemüht sich dafür nach Kräften und verliert dabei den wahren Zweck aus den Augen.

Ihr alle wisst, wie ihr wirklich seid. Habt keine zu hohe Meinung von euch selbst.

Wie befreiend ist es, wenn man sich selbst nicht mehr so wichtig nimmt und keine hohe Meinung von sich hat.

Andere dürfen gerne besser sein, mehr bekommen – mehr Wertschätzung, Anerkennung und Aufmerksamkeit erhalten. 

Alles entspannt sich, und wir werden frei. 

Wir können uns auf das konzentrieren, was wirklich wichtig ist. 

Kein ‚Ich‘, keine Probleme!

Bekannter Ausdruck im Zen

Das Ego sucht nach äußerer Liebe, findet jedoch keinen Zugang zur wahren Liebe, die von innen kommt. 

Es strebt nach äußerem Glück und versperrt sich den Weg zu wahrer innerer Glückseligkeit, die nur in Gott zu finden ist.

Wenn wir es schaffen, uns von diesem Ego zu befreien, erfahren wir, wie einfach es ist, glücklich zu sein.
 

2.7.7 Der Prozess der Auflösung der Ego-Identifikation

Der Prozess der Auflösung der Ego-Identifikation lässt sich für mich mit folgender Metapher veranschaulichen:

Stellen wir uns zwei Bäume vor, die nahe beieinander stehen. Der eine Baum symbolisiert das Ego, der andere unser wahres Selbst. Ein Mensch, der von einem zum anderen Baum gelangen will, ohne den Boden zu berühren, steht für unser Bewusstsein. 

Es wäre äußerst schwierig, sich vom Ego-Baum zum wahren-Selbst-Baum zu bewegen, indem wir beide Hände, mit denen wir uns am Ego-Baum festhalten, gleichzeitig loslassen. Doch es wird möglich, sobald wir einen Ast des wahren-Selbst-Baumes ergriffen haben. Dann können wir – mit etwas Mut – die Hand vom Ego-Baum vollständig lösen und uns mit beiden Händen zur Seite des wahren Selbst schwingen.

Die kritischste Phase dieser Transformation ist der Übergang, in dem wir das Ego loslassen müssen, ohne bereits festen Halt im wahren Selbst gefunden zu haben. 

Dies erfordert Glauben und Vertrauen in den mystischen Weg. 

Wenn wir also eine erste Ahnung von innerer Freude und Frieden bekommen haben – bildlich gesprochen bereits mit einer Hand einen neuen Ast ergriffen haben –, dann ist es möglich, das Ego vollständig loszulassen.

Sich mit dem wahren Selbst zu identifizieren bedeutet nicht, dass das Ego verschwindet. Es bedeutet vielmehr, dass wir uns als wahres Selbst erfahren und das Ego aus dieser Perspektive heraus erziehen können.

Unsere beiden Ich: das wahre Selbst und das Ego

Eine Perspektive, die für mich in diesem Prozess sehr hilfreich war, ist die Unterscheidung zwischen zwei Ebenen bei der Verwendung des Wortes „Ich“ – dem Ego und dem wahren Selbst

Wenn wir von „Ich“ sprechen, sollten wir uns bewusst machen, welche der beiden Wesensebenen wir meinen – das Ego oder unser wahres Selbst. 

2.7.8 Der Prozess der Berfreiung von der Ego-Identifikation durch die Meditation

In der Meditation tauchen manchmal Gedanken auf, die wir für äußerst wertvoll halten. Diese wollen wir dann auf keinen Fall loslassen – sie erscheinen uns so genial. 

Doch wenn wir ehrlich sind: Wissen wir noch, was wir vor einer Stunde oder gestern gedacht haben? 

Das meiste ist vergessen, und Gott sei Dank!

Ich habe hunderte Male im Gebet erlebt, dass ich in einem relativ tiefen Zustand gedanklich zu Lehren beginne. Daraus entstehen oft gute Anregungen für Vorträge. 

Früher bin ich dort immer hängen geblieben und habe manchmal sogar die Gedanken aufgeschrieben. 

Doch dann wagte ich es, diese loszulassen und mich noch ein Stück weiter für Gott zu öffnen. 

In diesen Momenten hatte ich meine tiefsten Gebetserlebnisse. 

Sie öffneten in mir eine Ebene, die noch tiefer war. Diese Erfahrungen wurden dann die Grundlage für die besseren Vorträge. 

Ich habe nie etwas verloren, indem ich Gedanken und Ideen losließ. 

Was wirklich wichtig ist, kommt wieder. Heute freue ich mich, wenn mein innerer Lehrer aktiv wird, und lasse ihn ohne Sorge los.

Durch die Erfahrungen in der Meditation erkennen wir, wie stark wir uns an unsere Gedanken klammern. 

In dem Moment, an dem wir uns Gottes Präsenz im Gebet anvertrauen und die Gedanken loslassen, lassen wir ein Stück des Egos los. 

Das ist eine entscheidende Übung auf dem religiösen Weg. 

Es ist jedes mal ein kleiner Schritt in Richtung Nullpunkt-Zustand. 

Der Zustand in dem wir uns vollkommen für Gott öffnen können. 

2.7.9 Das Ego auf der Ebene der Gefühle

Nach der Ebene der Gedanken folgt die Ebene der Gefühle.

Ähnlich wie beim gedanklichen Teil des Egos sind wir mit unseren Gefühlen identifiziert. Wir erleben sie so, als wären wir unsere Gefühle. Sie loszulassen ist der nächste, tiefere Schritt.

Unser natürliches Bestreben ist es, uns ständig gut zu fühlen – so sind unser Körper und Gehirn konditioniert. 

Auch unser ursprüngliches Gemüt genießt es, sich gut zu fühlen, jedoch nicht um jeden Preis. 

Es stellt die Liebe an oberste Stelle.

Im menschlichen Leben ist es unmöglich, sich dauerhaft gut zu fühlen. Wie das Wetter wechseln unsere Umstände und damit auch unser Gefühlszustand ständig. Obwohl wir das wissen, neigen wir dennoch dazu, unsere Gefühle zum Maßstab aller Dinge zu machen. 

Viele unserer Handlungen zielen darauf ab, uns besser zu fühlen. Das funktioniert zwar nie dauerhaft, doch wir halten an dieser Vorstellung fest. 

Würden wir sie loslassen, würden wir uns vermutlich öfter gut fühlen.

Buddha lehrte, dass zwei der fünf Haupthindernisse auf dem Weg zur Erleuchtung Aversion und Verlangen sind.

  • Aversion bedeutet die Ablehnung von allem, was unangenehm ist. Wir wollen uns von negativen Zuständen im Leben befreien und hegen eine Abneigung gegen Unangenehmes.
  • Auf der anderen Seite steht das Verlangen nach etwas, das wir bekommen möchten. Dies mündet in Gier. Wenn wir etwas haben, entsteht die Angst, es wieder zu verlieren. Also versuchen wir, es festzuhalten.

Das Ego wird von Aversion und Verlangen gesteuert:

„Das mag ich nicht, das mag ich.“ 

Um diese Achse dreht sich sein Leben. Das Ziel dieses Spiels ist es, sich ständig gut zu fühlen.

Doch das Leben und die Wirklichkeit kümmern sich wenig um unser Ego. 

Angenehmes kommt und geht, Unangenehmes kommt und geht – das können wir grundsätzlich nicht ändern. Leben bedeutet Wandel, es umfasst Freude und Schmerz, Gewinn und Verlust.

Dadurch, dass wir Unangenehmes ablehnen und Angenehmes festhalten wollen, entsteht zusätzliches Leiden. 

Schmerz ist unvermeidlich, Leiden ist optional.

Buddhistisches Verständnis

Das Ego erzeugt dadurch Konflikte, Leid und letztlich sogar Krieg und Selbstzerstörung. 

Würden wir jedoch den Kreislauf des Kommens und Gehens – die Veränderung der Zustände – akzeptieren, wären wir frei.

Das lässt sich in der Meditation unmittelbar erfahren. 

Befreiung durch Hingabe an den Moment

Ein Schmerz im Knie, den wir ablehnen, wird zu einem großen Problem, das uns vollständig vereinnahmt. Unser gesamtes Gemüt wird von der Ablehnung gequält. 

Doch wenn wir es schaffen, den Schmerz als die Wirklichkeit des Moments anzunehmen, löst sich das dadurch erzeugte Leid auf. 

Der ganze Körper kann sich entspannen, die Energie beginnt wieder zu fließen. Oft verschwindet der Schmerz sogar von selbst. Bei unangenehmen Emotionen gilt dasselbe Prinzip.

Das bedeutet natürlich nicht, dass wir nicht gut für unsere Gesundheit und unser emotionales Wohlbefinden sorgen sollen. 

Es geht vielmehr darum, zu erkennen, wie sehr wir von diesen Mechanismen gesteuert und vereinnahmt werden. 

Dieses Erkennen in uns selbst ist bereits der erste und wichtigste Schritt zur Befreiung.

2.7.10 Wahrer Gleichmut – der Schritt zu einer unveränderlichen Geisteshaltung

Gleichmut ist eine Geisteshaltung die uns von diesem gesteuerten Zustand befreit. Gleichmut bedeutet dass wir unbeeinflusst davon sind, wie wir uns fühlen oder wie die Umstände sind. 

Wir verändern nicht unsere Geisteshaltung, weil sich die Umstände ändern. 

Gleichmut bei einem Spiel würde bedeuten, dass es uns egal ist ob wir gewinnen oder verlieren. Es sind nur 2 Seiten einer Erfahrung. Einer verliert und ein anderer gewinnt. 

Das bedeutet nicht dass wir Gleichgültig sind. 

Wir investieren alles um zu gewinnen. Jedoch akzeptieren wir die Wirklichkeit hundertprozentig auch wenn wir verloren haben. 

Dadurch erleben die Erfahrung des verlierens so wie sie ist und konstruieren kein unnötiges Drama daraus. 

Das Wetter können wir nicht beeinflussen. Es sind die Umstände des Lebens. Einmal scheint die Sonne einmal regnet es. Wenn wir den Winter noch so hassen und den Sommer noch so lieben, wird es keine Stunde mehr oder weniger davon geben. 

Das Wetter wie die Wirklichkeit zeigen vollständig unbeeidruckt von unserem Verlangen. 

Ich freue mich, wenn es regnet, denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch

Karl Valentin

Das Wetter ist wie es ist, unser Gemüt kann damit hadern oder Gleichmütig sein. In der Haltung des Gleichmuts findet man vielleicht wieder Freude am Winter. 

Es geht um ein tiefes inneres Annehmen der Wirklichkeit im gegenwärtigen Moment.

Gleichmut kann man leicht missinterpretieren und missverstehen. Oft werden östliche Philosopien dafür kritisiert zur Verantwortungslosigkeit zu neigen. Wahrer Gleichmut hat jedoch nichts damit zu tun unverantwortlich zu sein. 

Wir verändern was wir verändern können zum Guten. 

Aber was wir nicht verändern können nehmen wir so an wie es ist. 

Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,  und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. 

Reinhold Niebuhr (1892–1971)

Auch etwas zum Guten verändern basiert darauf die Wirklichkeit zu erkennen und anzuerkennen. 

Gleichmut bedeuet absolutes anerkennen was ist. 

Das Annehmen und Aushalten der Wirklichkeit wie sie ist. Wir erzeugen kein unnötiges Leiden und hadern nicht mit ihr. 

Verdrängung – Flucht vor der ungewollten Wirklichkeit und ihre Folgen

Psychologisch gesehen entstehen viele Probleme – etwa Neurosen oder Suchterkrankungen – dadurch, dass wir es mit uns selbst nicht aushalten. Wir verdrängen das, was wir nicht sehen und vor allem nicht fühlen wollen.

So entstehen destruktive psychodynamische Muster. Bevor wir zu einem Suchtmittel greifen oder einem Suchverhalten nachgehen, erleben wir in der Regel einen Moment innerer Unruhe, Leere oder Schmerz.

Wären wir in der Lage, diesen Zustand bewusst auszuhalten, müssten wir dem Drang nach Ablenkung oder Betäubung nicht nachgeben.

Suchtverhalten dient letztlich dazu, der unangenehmen Wirklichkeit auszuweichen – sie nicht anschauen und nicht fühlen zu müssen.

Gleichmut – eine unterschätzte Quelle spiritueller Reife

Wer wahren Gleichmut in sich verwirklicht hat, braucht nichts mehr zu verdrängen – denn er kann alles annehmen, wie es ist. Und im christlichen Sinne bedeutet das auch: 

Er braucht nicht mehr zu sündigen, weil er nicht mehr aus Angst, Mangel oder Vermeidung handelt.

Wie Meditation zu Gleichmut führt

In der Mediation können wir Gleichmut erwerben und die Wirkung direkt erfahren. 

Es liegt es nicht in unserer Macht zu bestimmen, wie eine Meditation verläuft – ob der Gemüt ruhig oder zerstreut ist, ob uns Gnade geschenkt wird oder nicht, ob angenehme oder unangenehme Empfindungen auftauchen.

Alles geschieht – oder eben nicht.

Indem wir immer wieder üben, jeden Zustand so anzunehmen, wie er ist, entsteht nach und nach ein tiefer Gleichmut.

Wir lernen, das Unangenehme nicht durch unsere gewohnten Reaktionsmuster aufzulösen, sondern durch Hingabe an den Moment selbst.

So erfahren wir den Wert des Aushaltens – und erleben immer wieder, dass gerade im Durchleben der Schwierigkeit ein Geschenk verborgen liegt.

Gnadenerfahrungen offenbaren sich oft dort, wo wir nicht ausgewichen sind.

Auch im Alltag erkennen wir zunehmend: Unangenehme Phasen werden oft von innerem Wachstum, Erfolg oder tiefem Frieden gefolgt.

Gleichmut hilft uns, diesen Prozess bewusst mitzutragen.

Wechselwirkung von Hingabe und Gleichmut

Durch das Gebet entwickeln wir Hingabe – eine Kraft, die es uns erlaubt, uns innerlich Gott zu nähern.

Sie führt in tiefere Meditation, in innigeres Gebet und in eine immer freiere Hinwendung zu Gott.

Durch die Erfahrungen, die wir im Üben dieser Haltung machen, wächst nach und nach ein stabiler Gleichmut.

Gleichmut wiederum befähigt uns zur vollständigen Hingabe – selbst an eine unangenehme Wirklichkeit.

Hingabe und Gleichmut nähren einander – und führen in die Weite der inneren Freiheit.

2.7.11 Demut und Dankbarkeit: die Schlüssel zum spirituellen Wachstum

Demut, Dankbarkeit und Großzügigkeit sind bedeutende Eigenschaften des ursprünglichen Gemüts. 

Sie öffnen uns für Gott und schaffen die Voraussetzung, um Gottes Gnade zu empfangen.

Das ursprüngliche Gemüt braucht die Eigenschaften des Egos nicht. Verhaltensweisen wie das Vergleichen mit anderen existieren hier nicht. 

Das Herz möchte Liebe geben und sich dem Leben für andere hingeben. Es ist dankbar für alles, was es geschenkt bekommt, und sich bewusst, dass alles im Leben ein Geschenk ist.

Alles Gute kommt von Gott

Emanuel Swedenborg berichtet von seinen Gesprächen mit Engeln – wobei er unter „Engeln“ Geistwesen versteht, zu denen auch menschliche Seelen gehören. 

Sie wundern sich sehr über die Menschen auf Erden – besonders darüber, dass diese stolz auf sich sind und ihre guten Eigenschaften und Leistungen sich selbst zuschreiben.

Für die Engel ist es selbstverständlich, dass alles Gute von Gott kommt, einschließlich ihrer eigenen guten Eigenschaften und Fähigkeiten. Daher möchten sie für alles Gute, das geschieht und das sie erreichen, Gott danken und ihn lobpreisen. 

Das spiegelt die Haltung des ursprünglichen Gemüts gut wider.

Demut ist göttlicher Schutz, welcher nicht zulässt, dass wir unsere Erfolge sehen. 

Demut macht glücklicher

Das ursprüngliche Gemüt existiert in jedem von uns – es ist unsere innerste Natur und unser Herz. Auf dem mystischen Weg finden wir zu dieser Haltung zurück. 

Sie macht uns glücklich und frei. 

In dieser Haltung öffnet sich die Tür unseres Herzens, um Gottes Gnade und Liebe zu empfangen.

Die Pforte der Liebe ist die Demut, welche alle, die sich nähern, hereinführt. 

Demut wird von buddhistischen und christlichen Mönchen, Nonnen und Mystikern gleichermaßen als sehr wichtig erachtet. Im orthodoxen Christentum gilt Hochmut als eines der Hauptprobleme des Menschen.

Im Christentum wird Hochmut als eine der schwerwiegenden Sünden betrachtet. Hochmut, oder Stolz, wird häufig als „Hauptursache“ für das menschliche Versagen angesehen, weil er den Menschen in seiner Beziehung zu Gott und zu anderen Menschen von der Demut und der Gottesliebe entfernt.

Hochmut wird oft als die „erste Sünde“ verstanden, da er die Ursache für den Fall des Teufels (Satan) und des Sündenfalls von Adam und Eva im Garten Eden sein soll. Der Hochmut stellt das eigene Ich über Gott und andere, was im christlichen Glauben als ein zentrales Problem des menschlichen Zustands gilt.

In allen christlichen Traditionen wird Demut als zentrale Tugend und Hochmut als schwerwiegendes Hindernis für das spirituelle Wachstum betrachtet, wobei Buße als ein wesentlicher Weg zur Reinigung und Umkehr dient.

ChatGPT

Ich selbst erlebe Demut als sehr befreiend. Für mich fühlt es sich an, als könne man mit Demut überall mit Leichtigkeit hingehen. Sobald sie verloren ist, eckt man überall an und bleibt hängen. 

Wenn ich beginne, stolz, hochmütig oder arrogant zu werden, verschließt sich schnell mein Herz – und Gottes Gnade kann mich nicht mehr erreichen.

Wenn die Meinung nicht mehr mit den natürlichen Vorzügen prahlt, ist das ein Zeichen beginnender Gesundheit. 

Demut und Dankbarkeit sind wie ein Gradmesser dafür, ob man sich in einer guten geistigen Haltung befindet.

Wenn ihr während eures Gebetes viele geistige Erfahrungen habt, dann werdet ihr auferweckt. 

Wenn ihr mit einem solchen Herzen voranschreitet, wird Gott euch mit Sicherheit helfen, noch bevor ihr daran denkt. Ihr solltet Sein Herz in allem empfinden, was ihr sagt und lehrt. 

Sein Herz muss vor eurem Wort kommen, nicht danach. 

Darum müsst ihr immer demütig sein. Darum müsst ihr ohne ein Wort nach hinten gehen. Wenn ihr das tut, dann werdet ihr das Herz Gottes vor euch fühlen. Warum ist das so? 

Sein Herz wird euch zu jeder Zeit nach vorne ziehen. Solange ihr in einer solchen Position seid, könnt ihr eine Menschenmenge lehren, egal wie viele Leute vor euch stehen.

S. 635

2.7.12 Der Weg zur wahren Demut

Wahre Demut ist nur möglich, wenn wir einen gewissen Zugang zu unserem wahren Wesen gefunden haben. Wären wir noch mit dem Ego identifiziert und wollten es erziehen, müssten wir unser gesamtes Wesen ständig kleinmachen.

Wenn wir jedoch Zugang zur inneren Freude gefunden haben, die uns die Verbindung zu Gott schenkt, können wir das Ego immer wieder von seinem hohen Ross herunterholen – ohne uns dabei schlecht zu fühlen. 

Die Wertschätzung, die wir erfahren, wenn wir erkennen, dass Gott in uns real wohnen möchte, erfüllt uns in der Tiefe. Wir sind dann nicht mehr auf die Befriedigung des Egos angewiesen.

Aus wahrer Demut entspringt eine große Kraft. Sie versetzt uns in die Lage, uns ganz in den Dienst Gottes stellen zu lassen.

Eine Botschaft durch Martin Luthers Lebensweg

Ich habe ein Buch über Martin Luther (Martin Luther, der deutsche Reformator, von 1856) von einem großzügigen Freund geschenkt bekommen. Es vermittelt seinen Geist auf sehr direkte Weise. Das Lesen dieses Buches wurde für mich zu einer intensiven und bewegenden Auseinandersetzung mit Martin Luther.
In einem Gebet erhielt ich folgende Botschaft:

Wenn dich Gott nimmt, dann lass dich nehmen – dann geschieht Großartiges. Trotz deiner Unvollkommenheit, lass dich nehmen und vertraue auf Gott.

Der Mut, uns Gott anzuvertrauen, entspringt der Demut. Mut ist die andere Seite der Medaille der Demut – und steckt bereits in ihrem Wort. Martin Luther hat dies gelebt.