2.7.4 Egoismus und Selbstlosigkeit

In Religionen spielt die Entwicklung zu einem selbstloseren Menschen eine zentrale Rolle. Sie beschreibt die grundlegende Richtung, die eine echte spirituelle Entwicklung nehmen muss.

Um diesen Prozess in uns zu vollziehen, müssen wir zwischen Selbstbezogenheit und Selbstlosigkeit unterscheiden. 

In der Praxis erweist sich das jedoch oft als schwierig.

Die Problematik der Unterscheidung zwischen Selbstlosigkeit und Selbstbezogenheit

Veränderung im Prozess der Entwicklung

Ein Säugling kann nur auf seine eigenen Bedürfnisse fokussiert sein. Man könnte sagen, dass der Mensch in einem maximal egoistischen Zustand geboren wird. 

Wir erwarten jedoch, dass Menschen im Laufe ihrer Entwicklung zunehmend an das Gemeinwohl denken und sich dafür einsetzen. 

Daher sollte man bei einer Bewertung immer auch das Alter mit berücksichtigen. 

Bei Kindern und Jugendlichen tun wir das in der Regel ganz selbstverständlich. 

Doch bei Erwachsenen unterscheiden wir meist nicht mehr zwischen einem Dreißigjährigen und einem Fünfzigjährigen – obwohl man bei gesunder Entwicklung mit fünfzig eigentlich selbstloser sein müsste als mit dreißig.

Selbstloses Verhalten bedeutet noch nicht, selbstlos zu sein

Auch viele soziale Aktivitäten befriedigen unsere eigenen Bedürfnisse: Wir suchen positive Rückmeldungen, Anerkennung, Wertschätzung, wollen nicht alleine sein oder Teil einer Gemeinschaft sein. 

Sozial engagiert zu sein bedeutet also nicht zwangsläufig, selbstlos zu sein. 

Deshalb müssen wir unsere Motivation stets reflektieren und hinterfragen.

Negative Effekte der Unterscheidung bei bestimmten Psychodynamiken

Es gibt eine Ausnahme, in der der Versuch, selbstloser zu werden, nicht hilfreich ist.

Menschen, die in der Phase der Sozialisierung innerhalb der Familie zu früh zu viel Verantwortung übernommen haben. Zum Beispiel, wenn wir aus Angst vor dem Zerbrechen der Familie begonnen haben, uns emotional um einen Elternteil zu kümmern. 

Dies kann zu einer ungesunden Bezogenheit auf andere führen. In solchen Fällen spüren wir stärker, was andere brauchen, und verlieren uns selbst aus dem Blick. 

Doch das ist kein gesunder Altruismus – es bleibt Teil des Egos.

Dies sollte nicht verwechselt werden. 

Menschen mit einer solchen Psychodynamik müssen zuerst lernen, sich selbst zu spüren und mit sich in Kontakt zu kommen, bevor sie zu Gott finden können. 

Hier würde der bewusste Versuch, selbstloser zu werden, lediglich die bestehende psychodynamische Struktur verstärken, anstatt die spirituelle Entwicklung zu fördern.

Laut dem Göttlichen Prinzip sorgt sich auch das ursprüngliche Gemüt in gewissem Maße um sich selbst.

Das Göttliche Prinzip stellt zudem klar, dass der Zweck des Ganzen grundsätzlich auch den Zweck des Einzelnen umfasst. Bis zu einem gewissen Grad gehören der Fokus auf Selbsterhalt und Vitalität also zur ursprünglichen Natur.

Auch hier ist das Ziel des religiösen Weges, ein selbstloses Wesen zu werden. Das ursprüngliche Gemüt wird belebt und von der gefallenen Natur befreit, sodass es zur primären Motivation unseres Seins wird.

Fazit

Wenn wir genauer hinschauen, wird deutlich: Die Einteilung in Egoismus und Selbstlosigkeit kann leicht zu Missverständnissen führen. 

Solche Kategorien verleiten zu vorschnellen Urteilen und können im inneren Prozess zu Fehlentscheidungen führen. 

Gerade im feinen Prozess der Selbsterkenntnis verzerren sie oft den Blick, verstellen den Zugang zu einer tieferen Auseinandersetzung und behindern damit eine echte Selbsterkenntnis.

Diese Einteilung dient lediglich als grobe Orientierung. 

Es ist unbestritten, dass wahres geistiges Wachstum selbstlose Menschen hervorbringt.

Doch nicht jeder Blickwinkel kann uns zuverlässig durch diesen inneren Prozess leiten.

Ein Blickwinkel, der den Weg zur Selbstlosigkeit unterstützt

Auf meinem spirituellen Weg hat mir die Suche nach meinem selbstlosen wahren Selbst mehr geholfen als die äußere Bewertung meines Verhaltens.

Im Innersten sind wir selbstlose Wesen. Dieses innerste Wesen muss lediglich belebt und von dem oberflächlich selbstzentrierten Ego befreit werden.

Dieser Weg führt uns durch einen inneren Suchprozess, in dem wir unsere Ego-Identifikation erkennen und sie allmählich loslassen.

Das Ergebnis ist eine natürliche Transformation hin zur Selbstlosigkeit – durch die Befreiung unseres selbstlosen innersten Wesens.

Im Folgenden möchte ich die Sichtweise näher beschreiben, die mir auf meinem Weg geholfen hat – und die innere Transformation, die damit einherging.

© BLI - Thomas Schuh 2025