Diese Befreiung war aber nur möglich gewesen durch eine Vertiefung des religiösen Geistes überhaupt und durch ein lebendigeres Verständnis der christlichen Urgeschichte. Jene religlöse Vertiefung und dies freiere geschichtliche Verständniß haben wir als die beiden mächtigsten Triebkräfte der geistigen Umbildung vor Luthers Zeit anzusehen. In den Tiefen des religiösen Gemüts und des von ihm beseelten sitlichen Bewußtseins und zugleich in den ältesten schriftlichen Urkunden aus der Entstehungszeit der ersten Kirche schöpfte der christliche Geist seine Verjüngung, die Kirche ihre Wiedergeburt; und niemals haben geschichtliche Erkenntnis und religiöse Beseelung sich in einem edleren Werte durchdrungen, nie haben Wissen und Glauben einen schöneren Bund gestiftet als in jener Morgenröthe der Reformation.
Das geschichtliche Verständniß des ursprünglichen Christenthums erhielt durch das glücklichste Zusammentreffen begünstigender Umstände einen Aufschwung, wie er bisher unerhört und unmöglich gewesen. Die Neubelebung des Studiums der alten Sprachen und des klassischen wie des biblischen Alterthums überhaupt gab den nötigen Schlüssel zum Verständnisse der Ursprachen der biblischen Urkunden, die durch die neue Buchdruckerkunst nun in ganz anderem Maße als früher verbreitet werden konnten. Raschere Verbreitung und leichtere
Verständlichkeit gingen Hand in Hand. In Deutschland verdanken wir bekanntlich Männern wie Agrikola, Neuchlin, Grasmus das Meiste in dieser Beziehung.
Allein diese sprachlichen und formalen Bemühungen — obwohl von unberechenbarer Wichtigkeit und Wirkung — hätten doch für sich allein das Innerste des biblischen Alterthums den ursprünglichen Geist des Christentums noch nicht wahrhaft aufschließen können, wenn nicht von einer andern Seite her die zarteste Empfänglichkeit für die Geheimnisse des innern Lebens und des religiösen Sinnes wären vorbereitet worden.
Diese letztere Aufgabe war durch einen Kreis von Männern gelöst worden, die man als die Vertreter der vorreformatorischen deutschen Mystik zu bezeichnen pflegt. Es ist nun freilich nichts Leichtes, in der babylonischen Sprach- und Begriffs-Verwirrung unserer Zeit jenes unschuldige Wort in seinem ursprünglichen und geschichtlichen Sinne gegen die verschiedensten Mißdeutungen festzuhalten. In diesem freien und unverfänglichen Sinne istMystik wesentlich nichts anderes als die Religion des Herzens und des Gefühls zum Unterschiede von der religiösen Sinnesweise, die bei mehr nüchternen Naturen überwiegend auf dem Verstande und der Reflexion, bei mehr praktischen Naturen auf dem moralischen Sinne beruht. Nur wer das innerste Wesen der Religion zu unterscheiden vermag von reflektirendem Denken und tätiger Moral, wird auch jenes eigenthümliche Gebiet des inneren Sinnes zu fassen vermögen, welches in der Geschichte und in der Philosophie als Mystik bezeichnet wird.
So ist der ganze Reichstum des innen Lebens, sofern es dem ewigen Ursprunge aller Dinge zugekehrt, aus den reinen verborgenen Quellen des Gemütes seine Nahrung und Erfrischung schöpft. Diese innerliche Religiosität — wie wir die Mystik mit einem verständlicheren und weniger der Mißdeutung ausgesezten Worte auch nennen können — erhebt sich bei den tierischen Naturen mit Vorliebe auf den Schwingen der Phantasie, während sie in vorherrschend sittlich empfindenden art beseelten Gemütern mehr nur als ein warmer Hauch des Gefühls, als ein sansftes Ergriffensein des gesammten Seelenlebens vorwaltet.
Die deutsche christliche Mystik des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts erschein, bei einem freieren Überblicke als ein erster wichtiger Schritt der Reformation, als ein groß artiger Anlauf zur Wiederherstellung des Christenthums von innen her; sie war der mütterliche Boden für die religiöse Freiheit und Gemüthstiefe der Reformationszeit, wie denn auch Luther ihr lange Zeit wesentlich seine geistige Nahrung und Förderung verdankte. Sie dringt überall und mit dem größten Nachdrucke auf ein selbständiges Erfahren und Erleben der Religion
im tiefsten Innern; sie sucht eine unmittelbare bildlose wesenhafte Vereinigung mit dem höchsten Gute in den Tiefen der Seele und in den Opfern tätiger hingebender Liebe.
zu den bedeutendsten und am tiefsten in das Leben eingreifenden deutschen Vertretern dieser Richtung vor der Reformation gehören Suso und Tauler im vierzehnten, der Verfasser der deutschen Theologie, und Thomas von Kempen im fünfzehnten Jahrhundert. Die beiden Ersteren wußten aus dem Reichthum eines vielbewegten innern Lebens eine solche Gewalt des lebendigen Wortes zu schöpfen, daß sie weithin die Gemüter bewegten, und namentlich in den Städten am Rhein, wo sie vorzüglich wirkten, einen tiefen Eindruck hervorbrachten, und in
Unzähligen ein Verlangen weckten nach höhern Gütern. Suso 1300 — 1365) erzählt in seiner dichterischen Weise auf das anmüthigste: wie er Begierde hatte, daß er würde und heiße ein Diener der ewigen Weisheit, und wie, so oft er hörte von zeitlicher Minne singen und sagen, oder Loblieder und süßes Saitenspiel erklingen — dann sein Herz und Muth ein geführt ward in dieses sein lieblichstes Lieb, von dem alle Liebe fließt. Er gedachte: Ach Gott
möchte ich die Liebe nur einst sehen, möchte ich nur einst zu ihrer Nähe kommen! Da er so sich mühte, in wiefern er sie in den ausgelegten Kundschaften der Schrift mit den innern Augen sehen möchte, da zeigte sie sich ihm also: Sie leuchtete als der Morgenstern und schien als die anbrechende spielende Sonne; ihre Krone war Ewigkeit, ihr Kleid der Ewigkeit, ihr Wort Süßigkeit, ihr Umsahen aller Lust Genügsamkeit. Sie war gegenwärtig und doch verborgen; sie reichet über das Oberste des Himmels und berühret die Tiefe des Abgrundes
Sie folgte sich zu ihm inniglich und sprach zu ihm gütlich: , Gieb mir dein Herz, Kind meines.
Da trat er eine innerliche Frage: Ach Herz meines, siehe wonnen (von wo sieht Minne und alle Leutseligkeits wonnen kommt alle Bartheit, Schönheit, Herzenslust und Neblichkeits kommt es nicht Alles von dem ausquellenden Ursprung der
bloßen Gottheit Wohlauf denn, Herz und Sinn und Mut, hin in den grundlosen Abgrund aller lieblichen Dingel" — Dann drückte sich in seine Seele der ursprüngliche Ausfluß alles Gutes, in dem er geistlich Alles fand,, das da schön lieblich, und begierlich (begehrenswert) war!“, Ihm geschah dann oft recht, als wenn eine Mutter ihr Kindlein unter den Anmen gefaßt auf dem Schoße hat stehen, wie das mit seinem Haupte und Bewegung seines Leibes zu der zartenden Mutter emporfährt, und seines Herzens Freude mit in den liblichen Geberen erzeigt: also fuhr sein Herz oft zu der ewigen Weisheit lustreicher Gegenwärtigkeit!“
Sinnvoller, zarter, dichterisch schöner als in diesen Worten Sufos ist in der Deutschen Sprache vor Luther niemals das innigste Gottesgefühl ausgesprochen worden: die warme Sehnucht nach dem innersten Kerne, nicht blos dem äußeren Schatten der Religion. Was er größte deutsche Dichter der neueren Zeit in jenem berühmten Worte andenten wollte:
„Man sehnt sich nach des Lebens Bächen
„Ach, nach des Lebens Quelle hin!"
Transkripiert in versändliches Deutsch:
Hier ist eine verständlichere Übersetzung des altdeutschen Textes:
Diese Befreiung war nur möglich durch eine Vertiefung des religiösen Geistes im Allgemeinen und ein lebendigeres Verständnis der frühen Geschichte des Christentums. Diese religiöse Vertiefung und das freiere historische Verständnis sehen wir als die beiden wichtigsten Triebkräfte der geistigen Erneuerung vor der Zeit Luthers. Aus den Tiefen des religiösen Gemüts und des von ihm belebten sittlichen Bewusstseins, sowie aus den ältesten schriftlichen Zeugnissen aus der Entstehungszeit der ersten Kirche schöpfte der christliche Geist seine Erneuerung und die Kirche ihre Wiedergeburt. Niemals haben sich historisches Wissen und religiöse Ergriffenheit auf so edle Weise verbunden, und nie haben Wissen und Glaube einen schöneren Bund geschlossen als in dieser Morgendämmerung der Reformation.
Das historische Verständnis des ursprünglichen Christentums erlebte durch glückliche Umstände einen Aufschwung, der bisher unerhört und unmöglich gewesen war. Die Wiederbelebung des Studiums der alten Sprachen und der klassischen sowie biblischen Antike insgesamt gab den Schlüssel zum Verständnis der Originalsprachen der biblischen Schriften, die durch den Buchdruck nun viel weiter verbreitet werden konnten. Schnellere Verbreitung und leichtere Verständlichkeit gingen Hand in Hand. In Deutschland verdanken wir vor allem Männern wie Agricola, Reuchlin und Erasmus viel in dieser Hinsicht.
Doch diese sprachlichen und formalen Bemühungen – so wichtig und wirkungsvoll sie auch waren – hätten allein noch nicht den ursprünglichen Geist des Christentums wahrhaft erschließen können, wenn nicht von einer anderen Seite her die feinste Empfänglichkeit für die Geheimnisse des inneren Lebens und des religiösen Empfindens entwickelt worden wäre.
Diese Aufgabe wurde von einer Gruppe von Männern gelöst, die man als Vertreter der vorreformatorischen deutschen Mystik bezeichnet. Es ist allerdings schwierig, in der heutigen Verwirrung der Begriffe das Wort „Mystik“ in seinem ursprünglichen und historischen Sinne festzuhalten. In diesem Sinne bedeutet Mystik im Wesentlichen nichts anderes als die Religion des Herzens und des Gefühls, im Gegensatz zu einer nüchterneren, verstandesbasierten religiösen Haltung oder einer moralisch-praktischen Denkweise. Nur wer das innerste Wesen der Religion von reflektierendem Denken und moralischem Handeln unterscheiden kann, wird in der Lage sein, das eigentümliche Gebiet des inneren Sinns zu erfassen, das in der Geschichte und Philosophie als Mystik bezeichnet wird.
Die deutsche christliche Mystik des 14. und 15. Jahrhunderts kann als ein erster wichtiger Schritt zur Reformation gesehen werden, als ein großer Versuch, das Christentum von innen heraus zu erneuern. Sie war der Nährboden für die religiöse Freiheit und Tiefe der Reformationszeit, und Luther verdankte ihr lange Zeit seine geistige Nahrung und Förderung. Die Mystik drängte überall auf ein persönliches Erleben der Religion im tiefsten Inneren und suchte eine unmittelbare, bildlose Vereinigung mit dem höchsten Gut in den Tiefen der Seele und durch Opfer der hingebungsvollen Liebe.
Zu den bedeutendsten deutschen Vertretern dieser Richtung vor der Reformation gehören Suso und Tauler im 14. Jahrhundert sowie der Autor der „Deutschen Theologie“ und Thomas von Kempen im 15. Jahrhundert. Die beiden Ersteren schöpften aus der Fülle ihres inneren Lebens eine solche Kraft des lebendigen Wortes, dass sie die Menschen tief bewegten, vor allem in den Städten am Rhein, wo sie wirkten. Suso (1300–1365) erzählt auf poetische Weise, wie er sich danach sehnte, ein Diener der ewigen Weisheit zu sein. Oft, wenn er Lieder über zeitliche Liebe hörte, wurde sein Herz zu seiner höchsten Liebe geführt, von der alle Liebe ausgeht. Er dachte: „Ach Gott, könnte ich nur einmal die Liebe sehen, könnte ich nur einmal in ihre Nähe kommen!“
Da prägte sich in seine Seele der ursprüngliche Ausfluss allen Guten ein, in dem er geistlich alles fand, das schön, lieblich und begehrenswert war! Oft fühlte er sich, als würde eine Mutter ihr Kind auf dem Schoß halten und es mit seinem Kopf und den Bewegungen seines Körpers freudig zur zärtlichen Mutter aufschauen, um die Freude seines Herzens in ihren lieblichen Gebärden zu zeigen. So erhob sich oft sein Herz zur lustvollen Gegenwart der ewigen Weisheit!"
Diese letzte Passage fängt das mystische Gefühl einer tiefen, fast kindlichen Verbindung zum Göttlichen ein. Das Bild einer Mutter, die ihr Kind hält, kombiniert mit der Vorstellung von spiritueller Erfüllung, betont die intime und fürsorgliche Natur der mystischen Erfahrung.