1.1. Der Weg des Gebets – Phasen und Phänomene
1.1. Der Weg des Gebets – Phasen und Phänomene
Dieses Kapitel befasst sich mit dem Prozess, der zur inneren Einheit mit Gott führt. Das mag nach großen Worten klingen, doch es ist möglich, solche Zustände zumindest punktuell zu erleben – und solche Erfahrungen können unser Leben tiefgreifend verändern.
Gott hat mir persönlich eine Reihe von Erlebnissen geschenkt, die einen Weg aufzeigen, wie wir Gott real in unserem Inneren erfahren können. Um dorthin zu gelangen, müssen bestimmte Voraussetzungen geschaffen werden.
Dazu dient eine mystische Praxis, die im Wesentlichen aus Tiefenmeditation, reinem Gebet im Geiste und Achtsamkeit besteht. Sie ist eingebetet in ein Glaubensleben, das auf Nächstenliebe ausgerichtet ist. Durch diese Praxis durchläuft man einen Transformationsprozess, der einen durch bestimmte Phasen führt. Diese Phasen und die dabei auftretenden Phänomene werde ich in diesem Kapitel im Detail beschreiben.
Zunächst geht es darum, zu verstehen, was mystische Erfahrungen in ihrem Wesen wirklich sind.
1.2. Missverständnisse über mystische Erfahrungen
1.2. Missverständnisse über mystische Erfahrungen
Wenn man erstmals von mystischen Erfahrungen hört, wirken sie oft wie etwas Unwirkliches – Phänomene in einer Art Trancezustand, in dem allerlei erlebt und imaginiert werden kann. In Wirklichkeit sind mystische Erfahrungen jedoch genau das Gegenteil: Sie sind ein Erwachen in die Realität.
Untersucht man das Alltagsbewusstsein, stellt man fest, dass wir uns oft in einem Trancezustand befinden. Unser Bewusstsein ist die meiste Zeit in einer inneren Welt aus Gedanken und Bildern gefangen und nur zu einem geringen Teil mit der realen Wahrnehmung der Wirklichkeit verbunden. Zwar behaupten wir, unsere Gedanken und Vorstellungen basierten auf der Realität, doch bleiben es letztlich Konstrukte – Gedanken und Vorstellungen, können auch weit von der Wirklichkeit entfernt sein. Ein Film über einen Fluss ist kein Fluss. Es bleibt ein Film, den wir nach Belieben ändern können, ohne dass sich der Fluss tatsächlich verändert.
Mystik bedeutet daher zunächst, aus der Gedanken- und Bilderwelt herauszutreten und die physische Wirklichkeit bewusst wahrzunehmen. Ein Weg, der diesen Schritt nicht geht, ist meines Erachtens keine Mystik. Solche Ansätze könnten als Esoterik oder Trancemethoden bezeichnet werden, jedoch nicht als echte Mystik.
Das Mysteriöse für mystisch Unerfahrene ist, dass sich die Mystik im zweiten Schritt der geistigen Wirklichkeit öffnet. Dieser Bereich bleibt gewöhnlichen Menschen verschlossen, weshalb Berichte über mystische Erfahrungen für sie oft irreal erscheinen. Der mystische Weg jedoch führt zur Erfahrung der Wirklichkeit – sowohl der physischen als auch der geistigen.
Gebet und die Gedankenwelt
Selbst das Glaubensleben und die Gebete vieler religiöser Menschen finden oft überwiegend in der Gedanken- und Bilderwelt statt. In diesem Raum können religiöse Vorstellungen und Gefühle erzeugt werden, die jedoch nicht zwangsläufig einen Bezug zur Realität haben.
Was ist ein Trancezustand?
Ein Merkmal eines Trancezustands ist der Fokus auf ein bestimmtes Element, während andere Aspekte ausgeblendet werden. Die entscheidende Frage in der Mystik ist, ob das Bewusstsein im Gemüt – also in der inneren Gedanken- und Bilderwelt – oder in der wahrnehmbaren Wirklichkeit verankert ist.
Ein Beispiel: Man könnte in Trance fragen: „Welche Farbe hat dein Atem?“ Um diese Frage zu beantworten, muss man in einen imaginierten Zustand eintreten, denn niemand kann in der Wirklichkeit die Farbe seines Atems wahrnehmen. Das ist reine Fantasie.
Das bedeutet nicht, dass Trancezustände schlecht sind. Sie haben ihren Platz und können etwa in der Psychotherapie sehr erfolgreich genutzt werden. Doch sie haben nichts mit Mystik zu tun. In der Wirklichkeit können wir die Bewegung des Brustkorbs wahrnehmen, aber keine Farbe sehen. Dies zu unterscheiden, ist äußerst wichtig.
1.3. Der Charakter mystischer Erfahrungen
1.3. Der Charakter mystischer Erfahrungen
Wenn wir durch konsequente mystische Praxis in der Realität verankert bleiben, öffnet sich unser Bewusstsein für spirituelle Wahrnehmung. Es geht dabei nicht darum, Geister zu sehen oder zu hören, sondern eine natürliche geistige Empfindsamkeit oder Sensitivität zu entwickeln – eine zusätzliche Fähigkeit der Wahrnehmung.
Sogar mit geschlossenen Augen werdet ihr spüren können, wer an euch vorübergeht und ob es gute oder schlechte Menschen sind. Ihr werdet geistig empfindsam werden.
Mit dieser geistigen Empfindsamkeit nehmen wir neue Gefühle und Wahrnehmungen wahr. Wir können Energien spüren, die uns zuvor verborgen blieben, weil uns die Sinne dafür fehlten.
Auf dem mystischen Weg wollen wir immer in der physischen Realität geerdet bleiben. Es geht nicht darum, sich Fantasien über Gott und Liebe auszumalen und so künstlich ein Liebesgefühl zu erzeugen. Solche Gefühle können wir im Gemüt leicht hervorrufen, doch das ist nicht das Ziel der Mystik.
Die Mystik sucht die Realität Gottes – hier und jetzt, in diesem Augenblick, geerdet im physischen Körper. Alle großen Mystiker, seien es die buddhistischen oder die christlichen in den orthodoxen Klöstern, haben sich in der physischen Realität verankert. Auch sie traten aus der Gedanken- und Fantasiewelt des Gemüts heraus.
Aus der Sicht der christlichen Glaubensväter sind die Gedanken, die uns im Gebet kommen, Eingebungen des Teufels oder von Dämonen, die uns vom Weg zu Gott abhalten wollen.
1.4. Erwachen in der Realität des Geistes
1.4. Erwachen in der Realität des Geistes
Der mystische Weg führt uns aus dem Halbschlaf- und Trancezustand des Alltagsbewusstseins heraus und lässt uns in der physischen und geistigen Wirklichkeit erwachen. In der Meditation erkennen wir die Realität. Gedanken mögen auftauchen, doch wir lassen sie unser Bewusstsein nicht übernehmen. Wir bleiben in der Wahrnehmung der Wirklichkeit verankert.
Ebene der Gedanken
Im Vipassana-Buddhismus (Einsichts-Buddhismus) werden die Aspekte des Gemüts in der Meditation erforscht. Dabei wird beispielsweise über die Frage ‚Was ist ein Gedanke?‘ kontempliert. Auf diese Weise erkennen wir die wahre Natur der Gedanken.
Buddha lehrt, dass Gedanken leer sind, ohne Substanz. Wenn wir kein Geben und Nehmen mit ihnen aufbauen, verschwinden sie so, wie sie gekommen sind.
Ebene der Gefühle
In der Meditation erkennen wir außerdem, dass hinter wiederkehrenden Gedanken oft Gefühle stehen. Sie sind das Feuer, das die Gedanken im Untergrund anheizt. Wenn wir bei der reinen Wahrnehmung der Empfindungen bleiben, lösen sich auch die Gefühle mit der Zeit auf.
Ebene des Geistes
Buddha lehrt uns, dass Gefühle und sogar Wahrnehmungen leer sind. Sobald wir auch die Gefühle loslassen, öffnen wir uns für die dritte Ebene – den Bereich des Geistes. In der Leere von Gedanken und Gefühlen beginnen wir allmählich, die geistige Atmosphäre wahrzunehmen.
Dies ist nicht immer angenehm. Oft müssen wir uns im Gebet durch eine Schicht unangenehmer Empfindungen bewegen.
Himmlische Ebene
Erst wenn wir diese Schicht geduldig durchdrungen haben, öffnet sich eine höhere Ebene für uns. Hier erleben wir eine helle, leichte und liebevolle Atmosphäre. Dies könnte man als das öffnen der himmlische Ebene bezeichnen. Diese Erfahrung ist immer ein Geschenk der Gnade Gottes.
Die Präsenz Gottes
Auf dieser Grundlage kann sich das Bewusstsein für die Präsenz Gottes eröffnen. In der Leere und Stille wird uns in einem überwältigenden Erlebnis bewusst, dass in der Leere nicht „Nichts“ ist, sondern Gott! Der leere Raum um uns herum und zugleich die Tiefe unseres Herzens eröffnen uns die Realität Gottes. Wir fühlen uns durchdrungen von Glückseligkeit und Liebe.
Auf diese Erfahrung werde ich am Ende der Darstellung des Prozesses noch einmal zurückkommen.
Die Notwendigkeit geistiger Empfindsamkeit für die Gotteserfahrung
Gott ist reiner Geist. Um ihn direkt zu erfahren, brauchen wir geistige Empfindsamkeit. Nur wenn wir für den Geist empfänglich sind, können wir die Präsenz Gottes bewusst erleben. Andernfalls bleibt es bloß ein mentales Wissen: ‚Ich weiß, dass Gott jetzt da ist.‘ Doch die Mystik sucht den realen Gott im Hier und Jetzt – frei von Konzepten und Fantasien.
1.5. Die inner Gedanken- und Bilderwelt
1.5. Die inner Gedanken- und Bilderwelt
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Betrachten wir den Menschen als Ganzes, wissen wir, dass Gedanken im Großhirn entstehen – in einem vergleichsweise kleinen Teil des Körpers. Doch wenn wir unser Bewusstsein betrachten, zeigt das rechte Bild unseren Bewusstseinszustand treffender: Der Mensch befindet sich in einer Blase aus Gedanken und Bildern. Der größte Teil unseres Bewusstseins ist in dieser Blase gefangen, während nur ein kleinerer Anteil auf die Wirklichkeit unseres Körpers gerichtet ist.
Beobachte dies bei dir selbst: Wie viel Prozent deines Bewusstseins sind in diesem Moment mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit durch deine fünf Sinne beschäftigt, und wie viel steckt in deiner inneren Welt aus Gedanken und Bildern?
Die Wirklichkeit liegt jedoch außerhalb dieser Blase – und das gilt nicht nur für die physische Realität, sondern auch für die geistige. Die geistige Wirklichkeit ist nicht in dieser Blase zu finden. Gott können wir nicht in der Gedanken- und Bilderwelt begegnen. Gott ist in der Wirklichkeit außerhalb der Blase.
Für viele religiöse Menschen ist dies nicht klar – zum Beispiel für viele Christen. Buddhisten hingegen haben ein tiefes Verständnis dafür, ebenso wie die christlichen Glaubensväter, die in der Philokalie zu Wort kommen. Sie wissen, dass Gedanken und Prozesse im Gemüt uns daran hindern, Gott zu erkennen und uns seiner Präsenz bewusst zu werden.
Natürlich reflektiert unser Gemüt geistige Geschehnisse. Doch wenn wir Gott direkt begegnen wollen, müssen wir unser Bewusstsein auf die Wirklichkeit lenken und uns aus der Fantasieblase befreien.
Alles Denken geht durch eine gewisse sinnhafte Vorstellung ins Herz ein. Aber erst dann leuchtet ihm das selige Licht der Gottheit, wenn es sich von allen Dingen zurückgezogen hat und überhaupt nichts Bildhaftes mehr ist, den Glanz des Götteslichtes offenbart sich dem reinen Geiste durch die Abwesenheit aller Gedanken...
Daher ist es wichtig, dass der Betende sich von allen Gedanken fernhalte, die den Geist durch Bilder beeindrucken. Ein Geist, der den Geist schaut, wird anders geformt und auf andere Weise geordnet als jener, der das Wort des Geistes betrachtet. Daraus lernen wir, auf welche Weise das geistliche Erkennen den Geist von den Gedanken, die ihn mit Bildern füllen, sondert. Wenn er aber nicht um die Bilder kreist, dann nähert sich der Geist Gott.
...keine Einbildungskraft ist brauchbar, um zu Gott zu kommen.
Um dies musst du dich, da du es nun weißt, zu jeder Stunde mühen, zu Gott ohne sinnhaftes Bild, ohne Bild und Form, ganz reinen Geistes und mit gereinigter Seele mit aller Inbrunst zu beten.