Teil 2: Der Weg des Gebets – Phasen und Phänomene
Dieses Kapitel befasst sich mit dem Prozess, der zur inneren Einheit mit Gott führt.
Das mag wie ein unerreichbares Ziel klingen, doch es ist möglich, solche Zustände zumindest vorübergehend zu erleben – und diese Erfahrungen können unser Leben tiefgreifend verändern.
Gott hat mir persönlich eine Reihe von Erlebnissen geschenkt, die einen Weg aufzeigen, wie wir Gott real in unserem Inneren erfahren können.
Um dorthin zu gelangen, müssen bestimmte Voraussetzungen geschaffen werden.
Dazu dient eine mystische Praxis, die im Wesentlichen aus Tiefenmeditation, reinem Gebet im Geiste und Achtsamkeit besteht. Sie ist eingebetet in ein Glaubensleben, das auf Nächstenliebe ausgerichtet ist.
Durch diese Praxis durchläuft man einen Transformationsprozess, der einen durch bestimmte Phasen führt.
Diese Phasen und die dabei auftretenden Phänomene werde ich in diesem Kapitel im Detail beschreiben.
Zunächst geht es darum, zu verstehen, was mystische Erfahrungen in ihrem Wesen wirklich sind.
1.1. Missverständnisse über mystische Erfahrungen
Wenn man erstmals von mystischen Erfahrungen hört, wirken sie oft wie etwas Unwirkliches – Phänomene in einer Art Trancezustand, in dem allerlei erlebt und imaginiert werden kann.
In Wirklichkeit sind mystische Erfahrungen jedoch genau das Gegenteil:
Sie sind ein Erwachen in die Realität.
Untersucht man das Alltagsbewusstsein, stellt man fest, dass wir uns oft in einem Trancezustand befinden.
Unser Bewusstsein ist die meiste Zeit in einer inneren Welt aus Gedanken und Bildern gefangen und nur zu einem geringen Teil mit der realen Wahrnehmung der Wirklichkeit verbunden.
Zwar behaupten wir, unsere Gedanken und Vorstellungen basierten auf der Realität, doch bleiben es letztlich Konstrukte – Gedanken und Vorstellungen, können auch weit von der Wirklichkeit entfernt sein.
Ein Film über einen Fluss ist kein Fluss. Es bleibt ein Film, den wir nach Belieben ändern können, ohne dass sich der Fluss tatsächlich verändert.
Mystik bedeutet daher zunächst, aus der Gedanken- und Bilderwelt herauszutreten und die physische Wirklichkeit bewusst wahrzunehmen.
Ein Weg, der diesen Schritt nicht geht, ist meines Erachtens keine Mystik.
Solche Ansätze könnten als Esoterik oder Trancemethoden bezeichnet werden, jedoch nicht als echte Mystik.
Das Mysteriöse für mystisch Unerfahrene ist, dass sich die Mystik im zweiten Schritt der geistigen Wirklichkeit öffnet.
Dieser Bereich bleibt gewöhnlichen Menschen verschlossen, weshalb Berichte über mystische Erfahrungen für sie oft irreal erscheinen.
Der mystische Weg jedoch führt zur Erfahrung der Wirklichkeit – sowohl der physischen als auch der geistigen.
Gebet und die Gedankenwelt
Selbst das Glaubensleben und die Gebete vieler religiöser Menschen finden oft überwiegend in der Gedanken- und Bilderwelt statt.
In diesem Raum können religiöse Vorstellungen und Gefühle erzeugt werden, die jedoch nicht zwangsläufig einen Bezug zur geistigen Realität haben.
Was ist ein Trancezustand?
Ein Merkmal eines Trancezustands ist der Fokus auf ein bestimmtes Element, während andere Aspekte ausgeblendet werden.
Die entscheidende Frage in der Mystik ist, ob das Bewusstsein in der inneren Gedanken- und Bilderwelt oder in der wahrnehmbaren Wirklichkeit verankert ist.
Ein Beispiel: Man könnte jemanden fragen: ‚Welche Farbe hat dein Atem?‘ Um diese Frage zu beantworten, müsste man in einen Trancezustand eintreten, denn niemand kann in der Wirklichkeit die Farbe seines Atems wahrnehmen. Das ist reine Vorstellungskraft.
Das bedeutet nicht, dass Trancezustände schlecht sind.
Sie haben ihren Platz und können etwa in der Psychotherapie sehr erfolgreich genutzt werden. Doch sie haben nichts mit wahrer mystischer Praxis zu tun. In der Wirklichkeit können wir die Bewegung des Brustkorbs wahrnehmen, aber keine Farbe sehen.
Ist ein tiefer meditativer Zustand ein Trancezustand?
Nein – zumindest im buddhistischen Verständnis nicht.
Im Buddhismus wird zwischen meditativen Zuständen und Trancezuständen unterschieden.
Tiefe meditative Zustände (Jhanas) sind Teil der geistigen Schulung und zeichnen sich durch klare Achtsamkeit und Bewusstheit aus, ohne Ich-Fantasien.
Mystische Erlebnisse, die das Ego stärken („Ich bin besonders“), werden dagegen als Illusionen angesehen und als Ablenkung vom Weg zur Befreiung betrachtet.
Wesentliche Unterschiede:
Trancezustand (allgemein) | Buddhistische Meditation (Jhana, Vipassana) |
---|---|
oft unbewusst oder traumähnlich | klar bewusst und wach |
Verlust der Selbstwahrnehmung | geschärfte Achtsamkeit und Präsenz |
häufig verbunden mit Visionen, Bildern | Fokus auf Ruhe, Sammlung und direkte Einsicht |
kann das Ego stärken („spirituelle Erfahrung“) | führt zur Einsicht in Nicht-Selbst und Vergänglichkeit |
Dies zu unterscheiden, ist äußerst wichtig.
1.2. Der Charakter mystischer Erfahrungen
Wenn wir durch konsequente mystische Praxis in der Realität verankert bleiben, öffnet sich unser Bewusstsein für spirituelle Wahrnehmung. Es geht dabei nicht darum, Geister zu sehen oder zu hören, sondern eine natürliche geistige Empfindsamkeit oder Sensitivität zu entwickeln – eine zusätzliche Fähigkeit der Wahrnehmung.
Sogar mit geschlossenen Augen werdet ihr spüren können, wer an euch vorübergeht und ob es gute oder schlechte Menschen sind. Ihr werdet geistig empfindsam werden.
Mit dieser geistigen Empfindsamkeit nehmen wir neue Gefühle und Wahrnehmungen wahr. Wir können Energien spüren, die uns zuvor verborgen blieben, weil uns die Sinne dafür fehlten.
Auf dem mystischen Weg wollen wir immer in der physischen Realität geerdet bleiben.
Es geht nicht darum, sich Fantasien über Gott und Liebe auszumalen und so künstlich ein Liebesgefühl zu erzeugen.
Solche Gefühle können wir im Gemüt leicht hervorrufen, doch das ist nicht das Ziel der Mystik.
Die Mystik sucht die Realität Gottes – hier und jetzt, in diesem Augenblick, geerdet im physischen Körper.
Alle großen Mystiker, seien es die buddhistischen oder die christlichen in den orthodoxen Klöstern, haben sich in der physischen Realität verankert.
Auch sie traten aus der Gedanken- und Fantasiewelt des Gemüts heraus.
Aus der Sicht der christlichen Glaubensväter sind die Gedanken, die uns im Gebet kommen, Eingebungen des Teufels oder von Dämonen, die uns vom Weg zu Gott abhalten wollen.
1.3. Erwachen in der Realität des Geistes
Der mystische Weg führt uns aus dem Halbschlaf- und Trancezustand des Alltagsbewusstseins heraus und lässt uns in der physischen und geistigen Wirklichkeit erwachen.
In der Meditation erkennen wir die Realität. Gedanken mögen auftauchen, doch wir lassen sie unser Bewusstsein nicht übernehmen. Wir bleiben in der Wahrnehmung der Wirklichkeit verankert.
Ebene der Gedanken
Im Vipassana-Buddhismus (Einsichts-Buddhismus) werden die Aspekte des Gemüts in der Meditation erforscht. Dabei wird beispielsweise über die Frage ‚Was ist ein Gedanke?‘ kontempliert.
Auf diese Weise erkennen wir die wahre Natur der Gedanken.
Buddha lehrt, dass Gedanken leer sind, ohne Substanz. Wenn wir kein Geben und Nehmen mit ihnen aufbauen, verschwinden sie so, wie sie gekommen sind.
Ebene der Gefühle
In der Meditation erkennen wir außerdem, dass hinter wiederkehrenden Gedanken oft Gefühle stehen.
Sie sind das Feuer, das die Gedanken im Untergrund anheizt. Wenn wir bei der reinen Wahrnehmung der Empfindungen bleiben, lösen sich auch die Gefühle mit der Zeit auf.
Ebene des Geistes
Buddha lehrt uns, dass Gefühle und sogar Wahrnehmungen leer sind.
Sobald wir auch die Gefühle loslassen, öffnen wir uns für die dritte Ebene – den Bereich des Geistes.
In der Leere von Gedanken und Gefühlen beginnen wir allmählich, die geistige Atmosphäre wahrzunehmen.
Dies ist nicht immer angenehm. Oft müssen wir uns im Gebet durch eine Schicht unangenehmer Empfindungen bewegen.
Himmlische Ebene
Erst wenn wir diese Schicht geduldig durchdrungen haben, öffnet sich eine höhere Ebene für uns.
Hier erleben wir eine helle, leichte und liebevolle Atmosphäre.
Dies könnte man als das öffnen der himmlische Ebene bezeichnen. Diese Erfahrung ist immer ein Geschenk der Gnade Gottes.
Die Präsenz Gottes
Auf dieser Grundlage kann sich das Bewusstsein für die Präsenz Gottes eröffnen.
In der Leere und Stille wird uns in einem überwältigenden Erlebnis bewusst, dass in der Leere nicht „Nichts“ ist, sondern Gott!
Der leere Raum um uns herum und zugleich die Tiefe unseres Herzens eröffnen uns die Realität Gottes.
Wir fühlen uns durchdrungen von Glückseligkeit und Liebe.
Auf diese Erfahrung werde ich am Ende der Darstellung des Prozesses noch einmal zurückkommen.
Die Notwendigkeit geistiger Empfindsamkeit für die Gotteserfahrung
Gott ist reiner Geist. Um ihn direkt zu erfahren, brauchen wir geistige Empfindsamkeit.
Nur wenn wir für den Geist empfänglich sind, können wir die Präsenz Gottes bewusst erleben.
Andernfalls bleibt es bloß ein mentales Wissen: ‚Ich weiß, dass Gott jetzt da ist.‘ Doch die Mystik sucht die direkte Begegnung mit dem realen Gott.
1.4. Die innere Gedanken- und Bilderwelt
Betrachten wir den Menschen als Ganzes, wissen wir, dass Gedanken im Großhirn entstehen – in einem vergleichsweise kleinen Teil des Körpers.
Doch wenn wir unser Bewusstsein betrachten, zeigt das rechte Bild unseren Bewusstseinszustand treffender:
Der Mensch befindet sich in einer Blase aus Gedanken und Bildern.
Der größte Teil unseres Bewusstseins ist in dieser Blase gefangen, während nur ein kleinerer Anteil auf die Wirklichkeit unseres Körpers gerichtet ist.
Beobachte dies bei dir selbst:
Wie viel Prozent deines Bewusstseins sind in diesem Moment mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit durch deine fünf Sinne beschäftigt, und wie viel steckt in deiner inneren Welt aus Gedanken und Bildern?
Die Wirklichkeit liegt jedoch außerhalb dieser Blase – und das gilt nicht nur für die physische Realität, sondern auch für die geistige.
Die geistige Wirklichkeit ist nicht in dieser Blase zu finden. Gott können wir nicht in der Gedanken- und Bilderwelt begegnen.
Gott ist in der Wirklichkeit außerhalb der Blase.
Für viele religiöse Menschen ist dies nicht klar. Buddhisten hingegen haben ein tiefes Verständnis dafür, ebenso wie die christlichen Glaubensväter, die in der Philokalie zu Wort kommen.
Sie wissen, dass Gedanken und Prozesse im Gemüt uns daran hindern, Gott zu erkennen und uns seiner Präsenz bewusst zu werden.
Natürlich reflektiert unser Gemüt geistige Geschehnisse. Doch wenn wir Gott direkt begegnen wollen, müssen wir unser Bewusstsein auf die Wirklichkeit lenken und uns aus der Fantasieblase befreien.
Alles Denken geht durch eine gewisse sinnhafte Vorstellung ins Herz ein. Aber erst dann leuchtet ihm das selige Licht der Gottheit, wenn es sich von allen Dingen zurückgezogen hat und überhaupt nichts Bildhaftes mehr ist, den Glanz des Götteslichtes offenbart sich dem reinen Geiste durch die Abwesenheit aller Gedanken...
Daher ist es wichtig, dass der Betende sich von allen Gedanken fernhalte, die den Geist durch Bilder beeindrucken. Ein Geist, der den Geist schaut, wird anders geformt und auf andere Weise geordnet als jener, der das Wort des Geistes betrachtet.
Daraus lernen wir, auf welche Weise das geistliche Erkennen den Geist von den Gedanken, die ihn mit Bildern füllen, sondert. Wenn er aber nicht um die Bilder kreist, dann nähert sich der Geist Gott.
...keine Einbildungskraft ist brauchbar, um zu Gott zu kommen.
Um dies musst du dich, da du es nun weißt, zu jeder Stunde mühen, zu Gott ohne sinnhaftes Bild, ohne Bild und Form, ganz reinen Geistes und mit gereinigter Seele mit aller Inbrunst zu beten.
1.5. Prozess der Bewusstseinsentwicklung
Dies ist ein Modell zu diesem Thema:
- Der große Kreis symbolisiert den Menschen bzw. sein Gemüt.
- Das Herz im Zentrum repräsentiert das spirituelle Selbst – hier finden wir den Zugang zu Gott.
- Die Quadrate stehen für im Unterbewusstsein gespeicherte Erfahrungen.
- Die Punkte mit den Kreisen symbolisieren Prozesse im Gemüt. Diese Prozesse umfassen stets Emotionen, Gedanken und innere Bilder. Dies sind die Dynamiken die in der Psychologie im Detail untersucht werden.
- Außerhalb des großen Kreises befindet sich die wahrnehmbare Wirklichkeit. Unsere Wahrnehmungen verbinden uns mit der Realität und verankern uns in ihr.
Wenn wir eine Weile meditieren, erkennen wir die Prozesse im Gemüt als Gedanken und innere Bilder.
Diese stehen zwischen unserem Bewusstsein und unserem Herzen. Dieses Phänomen tritt nicht nur während der Meditation auf, sondern begleitet uns in jedem Moment unseres Lebens.
Daher praktizieren Buddhisten Achtsamkeit den ganzen Tag hindurch.
Christliche Mystiker sprechen von Wachsamkeit. Konzeptuell liegt der Fokus christlicher Mönche stärker darauf, aufkommende Sünde im Gemüt frühzeitig zu erkennen und abzuwehren.
In der Praxis jedoch ist Wachsamkeit ohne Achtsamkeit in jedem Moment nicht möglich. Dadurch haben beide Ansätze letztlich denselben Effekt.
1.6. Vollkommenes Bewusstsein im Hier und Jetzt
Das folgende Diagramm veranschaulicht den Zustand vollkommener Bewusstheit im Hier und Jetzt.
Die Emotionen und Gedanken im Gemüt sind zur Ruhe gekommen. Unser Bewusstsein ist vollständig in den Wahrnehmungen der fünf Sinne verankert.
Eine innere Stille hat sich eingestellt, und wir haben direkten Zugang zu unserem Geist und unserem spirituellen Herzen. In diesem Zustand können wir tiefe innere Erfahrungen machen.
1.7. Vollkommenes Bewusstsein und der Weg der Achtsamkeit
In meiner Jugend hatte ich ein tiefgreifendes Erlebnis.
Mit 16 Jahren las ich ein Buch von P. D. Ouspensky über die Lehre Gurdjieffs. Darin wurde das Konzept des Selbsterinnerns beschrieben.
Inspiriert davon fasste ich den Entschluss, für eine Zeit bewusst nicht mehr zu denken, sondern nur wahrzunehmen. Mein Ziel war es, den ganzen Tag über nicht zu denken – ein Vorhaben, das zwar unmöglich ist, das ich jedoch mit aller Entschlossenheit verfolgte.
Ich praktizierte dies mit großer Intensität und Willenskraft. Diese Herangehensweise ist nicht unbedingt zu empfehlen, doch nach etwa zwei Wochen hatte ich meine erste mystische Erfahrung.
Nach dem Joggen mit einem Freund frühstückten wir gemeinsam. Ich hielt eine Tasse Kaffee in der Hand, als mich ein überwältigendes Gefühl erfasste:
Ich bin jetzt da!
Ich lebe!
Die Wahrnehmung der Tasse in meiner Hand wurde so intensiv, dass mir Tränen der Freude über das Gesicht liefen. Mein Herz war offen und in direktem Kontakt mit der Wirklichkeit. Vollständig in diesem Moment zu sein, ist eine überaus kraftvolle und tiefgehende Erfahrung.
Doch eine solche Erfahrung lässt sich nicht allein durch Willenskraft hervorrufen. Es ist immer auch eine Gnade Gottes, ein Geschenk, das uns gegeben wird.
In diesem Moment offenbarte Gott mir die Kraft der Achtsamkeit.
Achtsamkeit als Weg zum innersten Wesenskern
Das folgende Diagramm deutet die Veränderung an, die das Verbleiben des Bewusstseins in der Wirklichkeit des Hier und Jetzt bewirkt.
Durch Achtsamkeit werden die Prozesse im Gemüt zur Ruhe gebracht, und wir kommen unserem innersten Wesenskern – dem Herzen – näher.
Die positive Wirkung der Achtsamkeit ist wissenschaftlich gut erforscht.
Sie fördert psychische Gesundheit und sorgt für Stabilität. Man hat weniger negative Gefühle und wird deutlich seltener von unangenehmen Lebenserfahrungen getriggert.
1.8. Die Kraft der Gegenwart: Geist, Körper in Liebe vereint
Auf dem Pfad der Kontemplation bewegen wir uns in diese Richtung:
Wir wollen unser Bewusstsein und damit unser Herz für die Wirklichkeit öffnen.
Dazu müssen zuerst die Prozesse im Gemüt zur Ruhe kommen.
Im Prinzip geht es darum, dass sich das Bewusstsein unseres Geistes öffnet – oder, wie Sun Myung Moon es ausdrückt, das Geistige Gemüt erweckt wird.
Das Geistige Gemüt kann dann zum Subjekt über unser Gehirn und die psychischen Vorgänge in unserem Gemüt werden.
In einem solchen Zustand haben wir Zugang zu einer höheren Ebene des Denkens, die im Geistigen Gemüt ihren Sitz hat. Da das Geistige Gemüt untrennbar mit Gott verbunden ist, erhalten wir hier Zugang zu einer von Gott geführten Intuition.
Alles, wonach wir als religiöse Menschen streben – Demut, Dankbarkeit, innere Freude, ein Herz voller wahrer Liebe – entfaltet sich in diesem Zustand auf natürliche Weise.
Die geistige Realität eröffnet sich erst, wenn unser Bewusstsein in der physischen Wirklichkeit des gegenwärtigen Moments verankert ist.
Sie ist nicht durch Konzepte oder Fantasien über Geist und Gott zu finden.
Wahre geistige Entwicklung durch Verwurzelung in der Realität
Esoterische Praktiken versuchen oft, über Trancemethoden höhere Bewusstseinszustände zu erreichen.
Solche Ansätze können mystische Erfahrungen schneller hervorrufen, doch sie basieren nicht immer auf der Wirklichkeit. Oft spielt viel Fantasie eine Rolle.
Ich bestreite nicht, dass dabei geistige Phänomene auftreten können, doch besteht die große Gefahr, sich in einer mystischen Fantasiewelt zu verlieren. Man sammelt Erfahrungen, ohne in wahrer Liebe und im Herzen zu wachsen.
Viele verlieren die Demut und entwickeln Stolz auf ihre Erlebnisse – ein Gift für den geistigen Fortschritt.
Buddha war sich dieser Gefahr sehr bewusst, ebenso wie christliche Mystiker, die davor warnten.
Der Unterschied auf dem Weg der Achtsamkeit besteht darin, dass wir in der Wirklichkeit geerdet bleiben. Selbst bei einfacher körperlicher Arbeit, wie etwa beim Putzen des Küchenbodens, können wir dem Erfahren von Gottes Präsenz näherkommen.
Die Praxis der Achtsamkeit schützt uns nicht zuletzt vor verfrühter geistiger Offenheit.
Gottes Liebe und Präsenz ziehen in unseren Körper ein. Die Geist-Körper-Einheit beschreibt einen Zustand, in dem wir mit der geistigen Realität durch den Körper eins geworden sind.
Nur wenn unser Geist im Körper angekommen ist, können wir wahre Nächstenliebe praktizieren.
Das ist es, was Jesus meinte, als er sagte, wir sollen zum Tempel Gottes werden.
2.1. Der inner Weg und die Phänomene
Ich hatte auf meinem persönlichen Weg verschiedene Erfahrungen, die mir ein klares Bild davon vermittelt haben, wie der innere Prozess zur Einheit mit Gott aussieht.
Ähnliche Erfahrungen wurden bereits vielfach von christlichen und buddhistischen Mystikern beschrieben.
Dennoch habe ich nirgendwo eine so klare Beschreibung des gesamten Prozesses gefunden.
Was ich erleben durfte, ist bestimmt nur die erste Runde eines spiralförmigen Weges, der unendlich weiterführt. Ich selbst bin kein annähernd heiliger oder besonders guter Mensch.
All diese Erfahrungen erhielt ich durch die Gnade Gottes.
Meine Überzeugung ist, dass Gott mir diese Erfahrungen geschenkt hat, um sie weiterzugeben und in eine ausgewogene mystische Praxis einzuführen.
Mit „ausgewogen“ meine ich eine Praxis, die auf Nächstenliebe ausgerichtet ist.
Manche mystischen Wege verlieren sich im Streben nach mystischen Erfahrungen und vergessen, dass es nur ein Ziel gibt – in der Nächstenliebe zu wachsen.
Ich hatte hierzu einmal einen Traum von einem Gespräch mit Sun Myung Moon.
Der Traum war sehr real, farbig und scharf, so wie Träume es nur selten sind. Ich lag auf dem Boden neben ihm und sagte: „Mit Bewusstseinsentwicklung hast du wenig am Hut – oder?“ Er antwortete: „Nein, nur mit wahrer Liebe!“ Dann stand er auf und lehrte mich etwas über Familienbeziehungen.
Dieser Traum machte mir den richtigen Fokus noch einmal deutlich und dass mystische Praxis kein Selbstzweck ist.
Sie muss uns dabei unterstützen, wahre Liebe in unseren Beziehungen zu verwirklichen. Mystische Praxis muss also im Alltag des Familienlebens und in einer modernen Gesellschaft möglich sein.
Die Bedeutung der Stille in einer reizüberladenen Welt
Andererseits ist mystische Praxis auch ein Heilmittel für unsere informationsüberladene, virtualisierte und mediendominierte Lebensweise.
Wir Menschen brauchen einen Ausgleich, der uns wieder zur Ruhe bringt und uns mit uns selbst in Kontakt führt.
Wir müssen zuerst wieder lernen, Ruhe ohne ständige Reize auszuhalten, um sie dann wieder genießen zu können.
Manchmal versucht man, junge Menschen durch viel Animation und Musikveranstaltungen für ein religiöses Leben zu motivieren. Das ist grundsätzlich gut.
Dennoch habe ich erfahren, dass besonders junge Erwachsene sehr dankbar sind, wenn man ihnen den Weg in die Tiefe zeigt – zu einem fühlbaren Kontakt mit sich selbst und einem persönlichen Zugang zu Gott. Das darf in keinem Fall fehlen.
Phasen und Phänomene
Im Folgenden werde ich die Phasen des inneren Weges strukturiert darstellen.
Während Phasen eine zeitliche Reihenfolge haben, können Phänomene in verschiedenen Phasen auftreten und lassen sich nicht eindeutig zeitlich einordnen.
2.2.1 Phase 1: Der Anfang des Weges
Alles beginnt mit einer Suche und einer Frage
An dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen, dass der Weg zu Gott mit einer Suche oder Frage beginnt. Wenn wir uns nicht nach Gott ausstrecken, sehnen, fragen und suchen, können wir nicht erwarten, ihn zu finden.
Die aufrichtige Suche wird uns zu ihm führen.
Klopfet an, so wird euch aufgetan. Sucht, so werdet ihr finden; bittet, so wird euch gegeben.
Psychologischer und geistiger Anfang: Das eigene Anliegen erkennen
Eine psychologische Beratung oder Therapie beginnt mit einem Auftrag. Ohne Auftrag darf der Therapeut nicht aktiv werden. Der Anliegen muss vom Klienten kommen. Die Auftragsklärung ist der erste und wichtigste Schritt. Sie entscheidet maßgeblich über den Erfolg der Therapie.
Wenn im Laufe des Prozesses deutlich wird, dass der Auftrag unklar ist, muss die Auftragsklärung erneut wiederholt werden. So lernt man es in einer therapeutischen Ausbildung, weil es ein grundlegendes Prinzip ist.
Um Gottes Führung und Gnade zu erhalten, müssen wir den ersten Schritt tun und nach ihr fragen und suchen.
Damit beginnt der Weg.
Meine persönliche Suche
Gott hat mir unverdienterweise viele wunderbare Erfahrungen geschenkt – sicher nicht, weil ich ein besonders heiliger oder gläubiger Mensch bin.
Das Einzige, was mir vielleicht dazu verholfen hat, war mein aufrichtiges Suchen nach diesem inneren Weg.
Es war manchmal weniger eine bewusste Tugend als vielmehr eine Suche aus Verzweiflung – durch meine Depressionen, Glaubenskrisen und mein sündiges Verhalten, das ich nicht in den Griff bekommen konnte.
All das trieb mich immer weiter und immer tiefer dazu, nach Gott zu suchen.
2.2.2. Sich zentrieren und sammeln
Die Grundvoraussetzung für den Weg des Gebets ist die Fähigkeit, uns zu sammeln und zu zentrieren.
Es geht darum, unsere persönlichen Gedanken, Gefühle und unser Wollen loszulassen, unser Gemüt zu beruhigen und in die Stille zu führen, um zu einem klaren Bewusstsein zu gelangen.
Solange unser Bewusstsein mit ständigem Denken, Interpretieren und Reflektieren unseres Lebens ausgefüllt ist, können wir uns nicht für Gott öffnen.
Mit einem in Gedanken verlorenen Bewusstsein ist keinerlei spirituelle Praxis möglich.
Wenn wir den Zugang zu unserem höheren Denken, Fühlen und Wollen im Geistigen Gemüt finden wollen, müssen wir unser vordergründiges Gemüt zuerst in die Stille führen.
Die übliche Erfahrung
Die meisten Menschen erleben in der Anfangsphase, dass sie sich immer wieder in Gedanken verlieren und ihr Bewusstsein darin gefangen ist.
Nach einer Weile wird man wieder bewusst wach und erinnert sich daran, dass man eigentlich meditieren wollte.
Dies kann auch nach Wochen und Monaten weiterhin geschehen. Selbst nach vielen Jahren Meditation treten solche Zustände der Zerstreuung immer wieder auf.
Das kann anfangs sehr frustrierend sein. Man mag sich fragen: Was ist der Gewinn davon? Man hat von beeindruckenden mystischen Erfahrungen gehört, doch stattdessen kämpft man nur mit seinen automatischen Gedanken.
2.2.3 Eine große Veränderung wird vorbereitet
In dieser Phase geschieht etwas sehr Bedeutendes:
Eine grundlegende Veränderung wird vorbereitet.
Wir erkennen zunehmend unseren realen Zustand und entwickeln die Sehnsucht, uns davon zu befreien.
In der Meditation erkennen wir, dass wir unser Bewusstsein in den Gedanken verloren haben, und kehren zur Wahrnehmung der Wirklichkeit zurück. Dieser Moment des Erwachens ist von großer Bedeutung – er erzeugt eine geistige Kraft, die die Voraussetzung für alles Weitere auf dem mystischen Weg ist.
Das wiederholte Trainieren dieses kleinen Schrittes – Erkennen und zur Wirklichkeit zurückkehren – entwickelt eine entscheidende Fähigkeit, die zur beständigen Achtsamkeit des Bewusstseins führt.
Letztendlich bringt uns dies zur Erleuchtung oder, anders ausgedrückt, zum Bewusstsein der Präsenz Gottes in jedem Augenblick – einem Zustand, in dem wir von Wahrer Liebe erfüllt leben können.
Durch die Meditation werden wir uns langsam der unterschiedlichen Zustände bewusst:
der Gefangenschaft und starken Identifikation mit unserem Denken und Fühlen einerseits und den bewussten Phasen andererseits.
In dem Moment, in dem wir wieder aufwachen, haben wir oft das Gefühl, die Zeit davor verschlafen oder vergeudet zu haben. Doch nach und nach wächst die Motivation, länger wach zu bleiben.
Um unseren Zustand zu verändern, muss uns unsere Realität zunächst schmerzhaft bewusst werden.
Das gehört zum inneren Weg. Schritt für Schritt führt er uns zu immer tieferer Selbsterkenntnis.
2.2.4 Das Erleben von Veränderungen im Alltag
Die positive Veränderung zeigt sich in dieser Phase meist eher im täglichen Leben als in der Meditation selbst.
Wir werden klarer und bewusster. Wir beginnen, unsere unterschiedlichen Bewusstseinszustände bewusst wahrzunehmen.
Unser psychischer Zustand verbessert sich allmählich: Wir erleben insgesamt weniger negative Gefühle und lassen uns seltener emotional triggern.
Negative Zustände werden schneller verarbeitet und aufgelöst.
Momente der Klarheit
Wenn ich nach der Meditation in der Küche mein Frühstück zubereite, fühle ich mich oft sehr klar – ich genieße jede Wahrnehmung bewusst und erlebe jede Handlung mit voller Präsenz. Das ist sehr angenehm und wertvoll.
Ihr werdet zunehmend solche Momente im Laufe des Tages erleben.
Oder vielleicht ein kurzes Gefühl von Freude, wenn ihr z. B. einen Vogel seht oder den Himmel betrachtet.
Ebenso können wir in Begegnungen mit Menschen bewusster werden.
Selbst wenn solche Erfahrungen noch selten sind, zeigen sie uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Wir sollten sie also wertschätzen.
2.3.1 Phase 2: Die Vertiefung
Wenn wir die erste Phase durchlaufen haben, werden wir weitere Veränderungen erleben. Diese Phase nenne ich Vertiefung.
In der ersten Phase sind viel Eigenmotivation und Selbstdisziplin nötig, um durchzuhalten, da wir die Veränderung noch kaum bewusst wahrnehmen.
In der Phase der Vertiefung hingegen werden wir mit neuen Erfahrungen belohnt – die Veränderung beginnt substanziell zu werden.
Momente des Öffnens während der Meditation
Du wirst während der Meditation Momente des Öffnens erleben.
Es beginnt damit, dass du geerdet bist und für eine Weile in der Wahrnehmung der Wirklichkeit verweilen kannst.
Dann geschieht plötzlich ein sich-öffnen – ein Moment der Bewusstwerdung:
„Ach, ich bin da.“
Plötzlich fühlt sich alles leichter und entspannter an. Dies ist ein sehr angenehmer Moment – ein Ankommen im Da-Sein im Hier und Jetzt.
Solche Erfahrungen sind der Beginn einer tieferen Öffnung.
Dieser Zustand entsteht nicht durch Anstrengung – er geschieht von selbst. Es ist eine Gnade, solche Momente zu erfahren.
Meist treten sie nicht direkt zu Beginn der Meditation auf, sondern erst nach 15, 20 oder 30 Minuten. Dadurch entstand in mir ganz natürlich der Wunsch, länger zu meditieren
2.3.2 Die Entwicklung von geistiger Empfindsamkeit
In dieser Phase entfaltet sich allmählich unsere geistige Empfindsamkeit oder Sensitivität.
Um Gottes Präsenz gewahr zu werden, benötigen wir eine Art geistige Wahrnehmung.
Gott ist reiner Geist und kann nicht direkt durch unsere physischen Sinne erfasst werden. Stattdessen werden wir seiner Präsenz durch unsere geistigen Sinne bewusst.
Geistige Sensitivität öffnet uns den Zugang zu unserem eigenen Geist und zum Bereich des Geistes. Wir beginnen, die Atmosphäre eines Menschen oder eines Raums zu spüren. Zudem wird uns bewusst, dass wir selbst Geist oder Seele sind und unser Geist in einer geistigen Umgebung lebt.
Wir beginnen, die Gefühle hinter den Gedanken zu erkennen
In der Meditation werden wir uns zunächst unserer Gedanken bewusst.
Wenn wir tiefer gehen, spüren wir auch die Gefühle, die hinter den Gedanken liegen. Wir erkennen, dass wiederkehrende Gedanken von tieferliegenden Emotionen angetrieben werden.
Dies ist bereits ein bedeutender Schritt in die Tiefe.
Gleichzeitig kann dies eine hilfreiche Übung sein: Während Gedanken auftauchen, können wir uns fragen, welche Atmosphäre sie haben.
Wir können versuchen, die Stimmung zu fühlen, die sie verbreiten. Auf diese Weise beginnen wir, die zugrunde liegenden Gefühle und deren Energie wahrzunehmen.
Später werden wir uns auch der geistigen Atmosphäre bewusst.
Wir erleben uns in einer geistigen Umgebung und erkennen den Einfluss, den sie auf unsere Gefühle hat. Durch längere Meditation und Gebet verändert sich diese Umgebung allmählich – sie wird freier, leichter, lichter und liebevoller.
2.3.3 Unterscheidung: Geistige Empfindsamkeit und geistige Offenheit
Geistige Empfindsamkeit ist etwas anderes als geistige Offenheit – und diese Unterscheidung ist von großer Bedeutung.
Während geistige Offenheit gefährlich sein kann, ist geistige Empfindsamkeit heilsam.
Erfahrungen mit geistiger Offenheit
Als ich in meiner Jugend das erste Buch über die geistige Welt gelesen hatte, wollte ich sie selbst erfahren.
Für mich war es immer wichtiger, Dinge selbst zu erleben, anstatt nur Geschichten oder Theorien zu lesen. Also entschied ich mich für ein Experiment:
Am Abend setzte ich mich mehrere Stunden lang in einen dunklen Raum und versuchte, die geistige Welt wahrzunehmen. Ich sprach mit den Geistern und bat sie, sich mir zu zeigen. Nachdem ich das einige Wochen getan hatte, begannen eigenartige Erlebnisse:
Beim Einschlafen konnte ich meinen Körper plötzlich nicht mehr bewegen – eine Erfahrung schlafparalytischer Lähmung. Ich versuchte zu schreien, doch es war unmöglich. Erst nach einigen Sekunden kehrte die Kontrolle zurück.
Manchmal hörte ich eine Stimme, die sagte: „Jetzt bin ich da.“ Auch untertags verspürte ich oft seltsame, unangenehme Gefühle in unserer Wohnung – so intensiv, dass ich sie manchmal verlassen musste.
Daraufhin schlug meine Mutter vor, zu einem Medium zu gehen.
Die Dame fragte uns, zu wem wir in der geistigen Welt eine gute Verbindung hätten, der mir helfen könnte. Mein Urgroßvater war ein Mensch, den wir beide liebten und schätzten. Nachdem sie ihn gerufen hatte, spürten meine Mutter und ich gleichzeitig eine überwältigende Präsenz.
Es war, als würde man die Atmosphäre eines Menschen intensiv wahrnehmen – nur um ein Vielfaches verstärkt. Der ganze Raum war von seiner Gegenwart erfüllt.
Diese Erfahrung machte mir zwei Dinge unmissverständlich klar:
- Die geistige Welt existiert mit Sicherheit.
- Es ist kein gutes Ziel, geistig offen zu werden – im Gegenteil, es kann sehr gefährlich sein.
Nach einiger Zeit verschwanden diese Phänomene wieder. Ich stieß dann auf die Zen-Meditation, die mich stark erdete. Reine Achtsamkeitsmeditation führt genau in die entgegengesetzte Richtung: Sie verankert uns zuerst im physischen Körper.
Die geistige Sensitivität, die sich auf diesem Weg langsam entwickelt, wächst auf dem soliden Fundament einer verbesserten Einheit von Geist und Körper.
Dies ist gesund, stabilisierend und führt uns letztendlich zum wahren Ziel – in Resonanz mit der Liebe Gottes zu gelangen.
Eine erste Ahnung davon hatte ich bereits in meiner beschriebenen Erfahrung mit dem Selbsterinnern bekommen – einem Moment des Erwachens in Lebendigkeit und Glückseligkeit.
2.3.4 Kleine Erleuchtungen
In der Phase der Vertiefung können bereits erste kleine Erleuchtungserfahrungen auftreten.
Im Zen-Buddhismus werden solche Einsichten auf Japanisch Kenshō genannt. Kenshō bedeutet wörtlich „das eigene wahre Wesen sehen“ und bezieht sich im Zen auf eine erste Erleuchtung - eine direkte Erkenntnis der wahren Natur des Selbst.
Christliche Mystiker sprechen in solchen Fällen von „Erleuchtungen“ oder „geistigen Einsichten“.
Diese Erkenntnisse haben eine andere Qualität als rein intellektuelle Einsichten, die durch das Verstehen von Inhalten und Zusammenhängen entstehen.
Sie übersteigen das intellektuelle Verständnis bei Weitem in ihrer Klarheit und transformierenden Kraft.
Geistige Wahrheit kann nicht allein mit dem Verstand erfasst werden. Sie wird durch geistige Erleuchtung vermittelt – so lautet das christliche Verständnis, und so entspricht es auch meiner persönlichen Erfahrung.
Solche Erleuchtungen sind ein plötzliches Gewahrwerden geistiger Wirklichkeit.
Sie geschehen häufig während der Meditation, können aber ebenso gut in alltäglichen Situationen auftreten. Solche Erfahrungen berühren uns zutiefst in unserem Wesen – manchmal bis zu Tränen oder emotionaler Überwältigung.
Beispielsweise hatte ich während meiner morgendlichen Gymnastik – für mich zugleich eine Achtsamkeitsübung – eine Kenshō-Erfahrung.
In bisher nie erlebter Klarheit wurde mir bewusst, dass ich nicht der Denker in mir bin. Ich bin etwas ganz anderes – das, was im Buddhismus als wahres Wesen bezeichnet wird. Im gewöhnlichen Bewusstsein sind wir vollständig mit unserem Denken, Fühlen und Wollen identifiziert.
Ich wusste das bereits seit 30 Jahren – aber diese Erfahrung des erweiterten Bewusstseins war in ihrer Intensität völlig neu für mich.
Über Erleuchtungen dieser Art und ähnliche Erfahrungen werde ich später noch mehr berichten.
2.4.1 Phänomen 1: Die therapeutische Dimension der Meditation
Die Art und Weise, wie wir in der Meditation mit unseren Gefühlen, Erfahrungen und Problemen umgehen, bewirkt eine Veränderung, der man durchaus einen therapeutischen Effekt zuschreiben kann.
Ich würde sie sogar als eine höhere Form der Psychotherapie und Heilung bezeichnen.
Jemand, der gelernt hat, alles, was in seiner Psyche hochkommt, auszuhalten und anzunehmen, um es letztendlich loszulassen, kann eine tiefgreifende Heilung erleben.
Hinzu kommt die Ressource von Gottes Gnade und Liebe, die alles zu heilen vermag.
2.4.2 Unterschiedliche Vorgehensweisen im Umgang mit negativen Gefühlen
Im Folgenden betrachten wir verschiedene Ansätze, wie wir mit negativen Gefühlen und belastenden Erfahrungen umgehen können.
Das konditionierte Vorgehen
Betrachten wir vereinfacht, wie wir gewöhnlich mit negativen Gefühlen und unangenehmen Empfindungen umgehen:
Wir sind so konditioniert, dass wir versuchen, uns so schnell wie möglich von ihnen zu befreien.
Wenn wir Verspannungen spüren, massieren oder bewegen wir die betroffenen Muskeln, um sie zu lösen. Ähnlich reagieren wir auf unangenehme Gefühle – häufig versuchen wir, sie durch Reden oder Nachdenken zu verbessern.
Eine andere Strategie ist Ablenkung: Wir beschäftigen uns mit etwas anderem in der Hoffnung, dass die negativen Gefühle nicht wiederkommen.
Ein weiteres verbreitetes Muster ist die Kompensation: Wir versuchen, das unangenehme innere Erleben durch äußere Handlungen oder Erfolge zu überdecken – zum Beispiel durch übermäßige Leistungsorientierung, Perfektionismus oder das Streben nach Anerkennung. Diese kompensatorischen Verhaltensweisen geben uns kurzfristig ein Gefühl von Kontrolle oder Wert, doch sie können die Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Bedürfnis nicht dauerhaft ersetzen.
Wenn eine tiefere psychodynamische Ursache hinter den Gefühlen steckt, werden sie immer wieder auftauchen.
Heilung durch Aufarbeitung der Ursprungserfahrung
In meiner therapeutischen Arbeit als systemischer Therapeut wurde mir immer deutlicher, dass Veränderung weniger durch Reflexion und Nachdenken, sondern vielmehr durch Wahrnehmung geschieht.
Reine Wahrnehmung der inneren Vorgänge lässt keine Illusionen aufrechterhalten.
Je mehr ein Klient in der Lage ist, seine inneren Prozesse, Einstellungen, Gefühle und Zusammenhänge bewusst wahrzunehmen, desto weniger muss der Therapeut eingreifen. Die eigene Wirklichkeit offenbart sich durch Wahrnehmung – und nichts gibt einen kraftvolleren Anstoß zur Veränderung als die klare Erkenntnis der Realität.
In der Psychotherapie gibt es verschiedene Methoden, um diesen Prozess zu unterstützen.
Eine klassische Herangehensweise besteht darin, den Klienten innerlich zur Ursprungserfahrung – dem Entstehungspunkt des Problems – zu führen. Beispielsweise kann konsequente Wahrnehmung der Gefühle einen inneren Suchprozess auslösen.
Durch die Frage „Woher kenne ich dieses Gefühl?“ oder „Wann habe ich es zum ersten Mal in meinem Leben empfunden?“ treten wir bewusst in Kontakt mit der ursprünglichen Erfahrung.
Sobald diese Verknüpfung bewusst wird und die emotionale Verbindung hergestellt ist, können wir die Erfahrung aufarbeiten. Dies wird als regressive Bearbeitung bezeichnet.
Konsequente Achtsamkeit und Annahme in der Meditation
Der erste Schritt in der Meditation ähnelt dem Vorgehen in der regressiven Bearbeitung: Wir nehmen das Gefühl und seine Energie bewusst wahr und hören auf, darüber nachzudenken.
Reine Wahrnehmung statt Nachdenken
Durch Meditation lernen wir, uns nicht von unserer gewohnten Konditionierung leiten zu lassen.
Die erste Konditionierung, die wir überwinden müssen, ist das automatische Nachdenken.
Sobald wir etwas erleben, das ein negatives Gefühl auslöst, beginnen wir unbewusst, die Situation gedanklich zu analysieren. Wir versuchen, das Gefühl durch innere Dialoge und Reflexion aufzulösen – doch oft funktioniert das nur begrenzt und verhindert, dass wir tiefer gehen.
Wer hat nicht schon einmal erlebt, dass er nachts nicht schlafen kann, weil er unablässig über eine unangenehme Situation nachdenkt? In solchen Momenten fällt es besonders schwer, die Gedanken loszulassen.
In der Meditation hilft uns das Meditationsobjekt – zum Beispiel die Wahrnehmung des Atems –, unser Bewusstsein in der gegenwärtigen Realität zu verankern. Indem wir uns auf eine physische Empfindung konzentrieren, entziehen wir uns der gedanklichen Konditionierung.
Wir lassen unser Bewusstsein nicht von gedanklicher Reflexion und analytischer Lösungssuche vereinnahmen, sondern bleiben bei der unmittelbaren Erfahrung des gegenwärtigen Moments. Dadurch können wir das Gefühl als reine körperliche Empfindung – sei es eine körperliche Reaktion oder eine energetische Bewegung – bewusst spüren und in diesem Spüren verweilen.
Die Überwindung der Abwehr gegen unangenehme Gefühle
Die nächste Konditionierung, die wir auflösen müssen, ist unsere instinktive Abwehr gegen alles Unangenehme.
Wir sind es gewohnt, unangenehme Gefühle so schnell wie möglich loswerden zu wollen.
Durch Meditation lernen wir, negative Empfindungen und Gefühle so anzunehmen, wie sie sind. Wie ich bereits im vorherigen Kapitel dargelegt habe, ist konsequente Achtsamkeit im gegenwärtigen Moment der erste Schritt, um Gottes Präsenz bewusst zu erfahren.
Wir versuchen nicht, die Realität zu verändern, und lassen uns nicht ablenken. Stattdessen bleiben wir bei unseren Gefühlen und schenken ihnen bewusste Aufmerksamkeit.
Das ist für mich die wahre Bedeutung von Selbstliebe: sich selbst bewusst wahrzunehmen, ohne sich von negativen Gefühlen bestimmen zu lassen.
2.4.3 Erfahrungen, die in der Meditation hochkommen
Wenn wir in der Meditation lernen, nach innen zu gehen und uns zu öffnen, tauchen zunächst viele Inhalte aus unserem Unterbewusstsein auf.
Das ist gut und unvermeidlich. Psychologisch betrachtet handelt es sich um einen Verarbeitungsprozess. Wenn wir achtsam bleiben, können wir diesen Prozess zulassen und geschehen lassen – ohne aktives Zutun.
Achtsamkeit entfaltet hier die stärkste positive Wirkung.
Wir werden erleben, dass Bilder von Situationen und die dazugehörigen Gefühle hochkommen. Nach einer Weile kehrt wieder Ruhe ein. Jedes Mal ist es eine befreiende Erfahrung.
Durch diesen Prozess beginnt sich unser Gemüt zu reinigen und sich für den Weg in die Tiefe vorzubereiten.
Meditation bedeutet nicht, negative Gefühle zu verdrängen oder „wegzumeditieren“.
Wenn wir das Gefühl haben, dass wir Emotionen durch Meditation verdrängen, befinden wir uns nicht in der richtigen Haltung.
Reine Achtsamkeit ist frei von jeglicher willentlichen Anstrengung – sie ist weder für noch gegen etwas gerichtet. Ein solches Empfinden zeigt uns, dass wir das Annehmen noch nicht vollständig verinnerlicht haben.
Wenn wir das Phänomen, dass Inhalte aus dem Unterbewusstsein aufsteigen, gar nicht erleben, kann das darauf hindeuten, dass wir uns zu sehr konzentrieren.
In diesem Fall wäre es an der Zeit, die Konzentration etwas zu verringern.
Heilung durch Gottes Gnade
Die letztendliche Heilung geschieht durch das Erfülltwerden mit der Liebe Gottes.
In dieser mystischen Erfahrung erleben wir eine Erneuerung, die immer mehr zu unserem Seinszustand wird. Durch die Liebe kann alles in unserem Gemüt und unserer Seele heilen.
Ein eigener Abschnitt wird sich noch mit dem Empfang von Gottes Gnade befassen, daher belasse ich es hier bei diesem Hinweis.
2.5.1 Phänomen 2: Die dunkle Nacht der Seele
„Die dunkle Nacht der Seele“ ist eine vorwiegend christliche Bezeichnung für ein Phänomen, das in allen mystischen Traditionen bekannt ist. Es handelt sich um eine Phase tiefster innerer Verlassenheit, in der die Nähe Gottes nicht mehr spürbar ist.
Die „dunkle Nacht der Seele“ im Buddhismus:
In der meditativen Praxis wird oft von tiefen Krisen gesprochen, wie etwa den „nanas“ (Einsichtsstufen) in der Vipassana-Tradition.
Hier gibt es Stadien wie die „Wissensklarheit über das Entstehen und Vergehen“ (die oft mit Euphorie beginnt) und dann das „Wissen über das Leiden“ (dukkha-nana), das von Frustration, Verwirrung und existenziellen Ängsten geprägt ist. Dies geht der tiefen Befreiung voraus.
Mystiker, die durch ihr tiefes Gebetsleben bereits die innere Glückseligkeit der göttlichen Präsenz erfahren haben, erleben diesen Zustand besonders schmerzhaft, wenn er plötzlich schwindet.
Es ist ein Gefühl tiefer Einsamkeit und Verlassenheit. Man könnte diese Phase auch als geistige Krise oder tiefe Glaubenskrise bezeichnen. Sie geht oft mit großen Zweifeln und einer Ernüchterung einher.
Doch alle tiefgläubigen Menschen durchleben solche Krisen und erfahren nach deren Überwindung eine Vertiefung und Erneuerung ihres Glaubens. Der Glaube wird dadurch reifer und erwachsener. Die dunkle Nacht der Seele ist somit ein natürlicher Teil des Weges zu Gott.
Natürliche Schwankungen in der Nähe zu Gott
Es gibt auch natürliche Schwankungen in der empfundenen Nähe zu Gott.
Emanuel Swedenborg beschreibt, dass sogar Engel im Himmel nicht immer in gleicher Nähe zu Gott leben. Er bezeichnet alle Geistwesen als Engel, auch verstorbene Menschen. Sie durchlaufen Phasen, in denen sie stärker auf sich selbst bezogen sind.
In solchen Zeiten empfinden sie tiefe Traurigkeit und sehnen sich danach, dass diese Phase schnell vorübergeht. Danach folgen wieder Perioden, in denen sie Gott nahe sind und von Glückseligkeit erfüllt werden.
Sun Myung Moon spricht in diesem Zusammenhang von den vier Jahreszeiten des Gemüts, in denen sich unsere Gefühle auf natürliche Weise verändern. Diese zyklischen Veränderungen finden nicht nur über lange Zeiträume hinweg statt, sondern sogar innerhalb eines Tages:
Morgen – Frühling
Mittag/Nachmittag – Sommer
Früher Abend – Herbst
Nacht – Winter
Jede dieser Tageszeiten enthält wiederum in sich selbst diese vier Jahreszeiten. Diese Schwankungen entstehen durch die Rotation des Tores des Gemüts (Geistiges Gemüt).
Wenn unsere geistige Empfindsamkeit geöffnet ist, spüren wir, wann wir Gott im Gebet besonders tief erreichen können.
Ich selbst erlebe oft, dass mich zu unterschiedlichen Tageszeiten eine tiefe Sehnsucht nach Gebet erfasst – manchmal am Nachmittag, manchmal mitten in der Nacht, etwa um 3 Uhr morgens, wenn ich durch Träume geweckt werde.
Diese natürlichen Schwankungen sind jedoch keine „dunkle Nacht der Seele“. Sie sind vielmehr Ausdruck einer inneren Bewegung.
Die dunkle Nacht der Seele ist eine tiefgreifende Krise
Die dunkle Nacht der Seele hingegen ist eine massive spirituelle Krise. Sie ist Teil eines tiefen Wiederherstellungsprozesses, der eine grundlegende innere Veränderung bewirken soll.
Durch diese Phasen hindurchzugehen, bereitet uns auf eine große Gnade vor – ein wunderbares Geschenk erwartet uns.
Jede dunkle Nacht der Seele enthält eine Lektion und eine Botschaft. In einer solchen Phase sollten wir daher aufmerksam darauf achten, was Gott uns lehren möchte.
2.5.2 Meine persönliche Erfahrung mit der dunklen Nacht der Seele
Ich praktizierte seit einiger Zeit wieder Zen-Meditation und herkömmliche christliche Gebete. Doch ich sehnte mich nach einer direkteren Erfahrung Gottes. Im Grunde befand ich mich bereits in einer Glaubenskrise und war innerlich verzweifelt. Ich wollte einen neuen Anlauf wagen, um ein tieferes Gebet zu erringen.
Daraufhin veränderte ich meine Zen-Meditation. Aus reiner Achtsamkeitsmeditation wurde eine Kontemplation über die Präsenz Gottes. Bei jedem Atemzug machte ich mir bewusst, dass Gott in diesem Moment da ist. Dazu verwendete ich eine Art Mantra mit dem Satz:
„Gott ist jetzt da.“
dieses Gebet praktizierte ich täglich für etwa 90 Minuten.
Ich hatte so viel über Gott gelesen und gelernt, doch ich wollte mich von all diesen Konzepten befreien und Gott so begegnen, wie er wirklich ist. Ich wollte ihn nicht länger in eine Schublade aus Gedanken und Vorstellungen zwängen.
Ich sagte zu ihm: „Auch wenn du kein guter, liebender Gott sein solltest – ich möchte dich trotzdem erleben, so wie du wirklich bist.“
Mit der Zeit entwickelte sich in dieser Form des Gebets ein Gefühl, das ich nur schwer in Worte fassen kann. Es war, als säße ich ganz allein in einer stockdunklen, kalten Halle auf einem Betonboden. Ich fühlte mich leer und einsam. Dieses Gefühl verstärkte sich mit den nächsten Wochen und Monaten.
Die Halle wurde immer größer, der Boden immer kälter, die Umgebung immer dunkler.
Ich flehte Gott innerlich um ein Zeichen an – doch es kam nichts. Kein Licht, kein Funke, kein Geräusch, kein Gefühl.
Nur vollkommene Stille, tiefste Finsternis und absolute Leere.
Die Halle dehnte sich schließlich so weit aus, dass sie das gesamte Universum zu umfassen schien. Ich war allein in dieser unendlichen Dunkelheit.
Kein Zeichen von Gott.
Ich fragte mich, warum Gott mir nicht wenigstens ein kleines Zeichen geben konnte, wo ich ihn doch so verzweifelt darum bat. In dieser Zeit haderte ich mit ihm. Manchmal zweifelte ich sogar an seiner Existenz.
Dann führte mich Gott zu einer Gruppe, die das Herzensgebet praktizierte – im Grunde genau das, was ich bereits seit einem halben Jahr tat. Dort wurde mir ein Buch empfohlen, in dem ich eine Passage über den scheinbar schweigenden Gott las. Es war für mich eine große Erleichterung zu erfahren, dass auch andere kontemplative Christen ähnliche Erfahrungen machen.
Einige Zeit später wurde mir klar, was Gott mir durch diese Dunkelheit zeigen wollte.
Gott ist in mir
Obwohl ich tief im Gebet versenkt war, suchte ich Gott weiterhin im Außen. Ich wollte ein wahrnehmbares Zeichen von ihm. Schon oft hatte ich bei Sun Myung Moon gelesen, dass Gott im Innersten des Herzens wohnt – doch in meiner Meditation hatte ich das noch nicht wirklich verinnerlicht.
Man kann meditieren, ohne wirklich nach innen zu gehen.
Erst als ich begann, dies bewusst zu lernen, entwickelte sich eine Art Herzmeditation. Das Gefühl der Verlassenheit verschwand. Stattdessen stellte sich eine leise, stille Freude in meinem Herzen ein.
Gott ist mit den fünf Sinnen nicht unmittelbar wahrnehmbar
Später erkannte ich zudem, dass ich Gott durch meine Sinne wahrnehmen wollte.
Doch Buddha lehrt, dass auch die Wahrnehmungen leer sind. Und Sun Myung Moon sagt, dass man Gott nicht einmal in der geistigen Welt direkt wahrnehmen kann – denn er ist reiner Geist, ohne Form.
Der Präsenz Gottes werden wir durch eine Erweiterung unseres Bewusstseins und durch unsere geistige Empfindsamkeit gewahr. Meine Erfahrungen dazu werde ich in einem späteren Kapitel beschreiben.
Dies waren die Lektionen, die ich durch diese ‚dunkle Nacht der Seele‘ verinnerlichen konnte. Sie brachten mich auf den Weg nach innen und bildeten die Grundlage für die Erfahrungen, die ich im Laufe von Kapitel 2 beschreiben werde.
2.6.1 Phänomen 3: Selbsterkenntnis - Reinigung des Gemüts
Selbsterkenntnis ist eine natürliche Folge der Meditation und des stillen Gebets. Solange wir Gebete aus unseren Gedanken und Gefühlen heraus sprechen, findet dieser Prozess nur begrenzt statt.
Erst wenn wir in die Stille gehen, werden wir mit unserer Wirklichkeit konfrontiert.
Wir beginnen, den Zustand unseres Gemüts zu erkennen.
Jeder von uns hat ein bestimmtes Selbstbild. Doch dieses ist lediglich ein Konstrukt – eine Vorstellung von uns selbst.
Die Wirklichkeit kann anders sein, und sie ist es mit Sicherheit auch.
Wenn wir über längere Zeit regelmäßig meditieren, verbringen wir Stunden und Tage mit unserer wahren Wirklichkeit. In der Meditation können wir nichts ausblenden oder verdrängen, selbst wenn es uns nicht gefällt.
Wir werden gnadenlos mit allem konfrontiert, was uns ausmacht. Der innere Weg zu Gott führt uns durch unsere eigene Wirklichkeit.
Es gibt keinen Weg, die Wiederherstellung unserer inneren Natur zu umgehen.
Der Weg zu Gott führt uns durch diesen Prozess der Selbsterkenntnis.
Was ist Gebet? Es ist Reinigung. Es ist notwendig, deinen Geist zu reinigen. Es ist eine Methode der Disziplin, um unseren Geist zu reinigen. Es ist notwendig, deinen Geist zu vereinen.
Durch das Gebet wirst du den Standard des ursprünglichen Gewissens wiederherstellen
Es werden Situationen aus unserem Leben auftauchen, in denen wir auf eine bestimmte Weise gehandelt haben. Oft zeigt sich dabei ein anderes Bild von uns selbst. So gelangen wir Schicht für Schicht zu einer immer tieferen Selbsterkenntnis.
Das Erkennen der eigenen Wirklichkeit ist die Voraussetzung für eine positive Veränderung. Solange wir uns Illusionen über uns selbst machen, wird keine teifgreifende Veränderung stattfinden.
Diese Art der Selbsterkenntnis kann zunächst unangenehm sein. Christliche Mystiker sprechen von der „schmerzhaften Selbsterkenntnis“.
Doch letztendlich führt sie uns in die wahre Freiheit – denn wir legen unsere ursprüngliche Natur oder, im buddhistischen Terminus, unser wahres Selbst frei. Wir beginnen, unsere gefallene Natur abzulegen, so wie eine Schlange ihre alte Haut abstreift.
Am Ende werden wir mit der Entdeckung unseres wahren Selbst beschenkt.
Angewohnheiten können ewig bestehen; es ist so schwer, sie zu ändern. Aber dennoch können sie geändert werden, während ihr auf der Erde lebt...
Wenn eine Schlange sich häutet, wird sie so lange herumkriechen, bis sie eine
Felsspalte findet, in der ihr Schwanz hängen bleibt. Sie wird dann ihren Körper um einen Baum winden und sich mit aller Kraft daran reiben und sogar bluten, um ihre Haut abzustreifen.
2.6.2 Unterschiedlicher Standard der Reinheit
Eine Straße gilt als sauber, wenn kein Müll herumliegt. Doch wäre der gesamte Staub dieser Straße in unserem Badezimmer, würden wir es als sehr schmutzig empfinden. Selbst nachdem wir das Badezimmer gründlich gereinigt haben, bleibt immer noch etwas Staub zurück.
Hätten wir jedoch den Reststaub eines sauberen Badezimmers in unserem Auge, wäre das äußerst unangenehm – und wir würden ihn sofort entfernen wollen.
Genauso existiert im geistigen Leben ein wachsender Standard der Reinheit. Wenn wir das stille Gebet praktizieren, bewegen wir uns auf Gott zu.
In der Gegenwart Gottes wird selbst das kleinste Staubkorn sichtbar.
Jemand mag von sich behaupten, nicht zu sündigen, weil er nicht stiehlt und seinem Partner treu ist. Doch in der Meditation könnte er erkennen, dass er durch seine Handlungen oder Unterlassungen dennoch Menschen und Gott verletzt. Diese Erkenntnis fordert eine Anpassung des Selbstbildes.
Letztendlich verletzen wir unser eigenes Herz, wenn wir andere oder Gott verletzen.
Unser ursprüngliches Herz ist sehr rein. Je mehr wir es verletzen, desto mehr entfernen wir uns von unserer Mitte und unserem wahren Selbst. Später werden wir den Schmerz, den unser liebloses Handeln im Herzen verursacht, immer deutlicher spüren.
2.6.3 Meine persönliche Erfahrung mit der schmerzhaften Selbsterkenntnis
Ich befand mich in einer Phase, in der ich zugegebenermaßen etwas depressiv war. Innerlich ging es mir nicht gut.
Es war Winter, ich arbeitete seit Langem zu viel und war erschöpft. Die äußere Situation war kurzfristig nicht zu ändern, und ich hatte keine Perspektive, dass es in absehbarer Zeit besser werden würde. In solchen Lebensphasen werde ich leicht depressiv, da ich von Natur aus dazu neige.
In meiner Meditation tauchten ständig negative Gedanken über andere Menschen auf. Mit der Zeit wurde mir immer klarer, was in mir vorging:
Ich fühlte mich schlecht und versuchte, mich besser zu fühlen, indem ich andere innerlich abwertete und kritisierte.
Nach und nach kamen auch Erinnerungen an Situationen aus meiner Vergangenheit hoch, in denen ich genau dasselbe getan hatte.
Das Bild, das mir von mir selbst gezeigt wurde, füllte mein gesamtes Inneres aus. Es schien, als hätte ich mein ganzes Leben nichts anderes getan, als andere abzuwerten, um mich selbst aufzuwerten.
In einer Psychotherapie hätte man nun am Selbstwertgefühl gearbeitet. Doch auf meinem Gebetsweg erschloss sich mir etwas anderes: Mir wurde schmerzhaft meine innere Verhaltensweise bewusst.
Ich war entsetzt – ja, sogar angeekelt von meinem eigenen Vorgehen. Ich hatte die Nase voll von mir selbst.
Ich hatte bereits viele Jahre Psychotherapie hinter mir, bis mir Psychologen sagten, es bringe nichts mehr – ich müsse einfach damit leben. Zudem lag fast 40 Jahre eines religiösen Weges hinter mir, und dennoch war ich immer noch so.
Ich verlor die Hoffnung, mich in diesem Leben noch verbessern zu können. Mit all meiner angeblichen Weisheit als erfahrener Familientherapeut war es mir nicht gelungen, mich tiefgreifend genug zu heilen und zu verändern.
Es fühlte sich an, als würde ich innerlich zermürbt.
Doch genau an diesem Punkt geschah etwas Bedeutendes. Das größte Glück meines inneren Lebens öffnete sich für mich:
Ich wurde bereit, mich ganz in Gottes Hand zu legen.
Ich bat Gott, mich zu verändern – und es begann damit, dass ich das Wunder seines Wirkens erfahren durfte.
2.6.4 Wie Gott uns verändert
Es ist nicht einfach, sich Gott anzuvertrauen – dass er mein Leben führt und ich meine Entscheidungen nach seinem Willen ausrichte.
Doch noch schwieriger war für mich, die Veränderung meines Wesens in Gottes Hand zu legen.
Sich selbst zu erforschen bedeutet, sich selbst zu vergessen. Sich selbst zu vergessen bedeutet, von allen Dingen erweckt zu werden.
Gewöhnlich wollen wir uns selbst so verändern, wie wir es für richtig halten. Wir möchten so werden, wie wir es uns wünschen.
Doch nicht immer ist das der beste Weg für uns. Vielleicht soll ich gerade so werden, wie Menschen, die ich ablehne oder uncool finde.
In meiner Vergangenheit habe ich andere oft als leichtgläubig und naiv abgewertet. So wollte ich nicht werden – und auch nicht so erscheinen. Ich tat alles, um nicht als leichtgläubig dazustehen.
Die Vorstellung, von anderen so gesehen und abgewertet zu werden, wäre für mich sehr schmerzhaft gewesen.
Doch was, wenn Gott mich in eine Richtung verändern möchte, in der ich für andere vielleicht genau so erscheine? Früher hätte ich das blockiert und mich mit aller Kraft dagegen gewehrt.
So wollte ich niemals werden.
Die Veränderung meines Wesens in Gottes Hand zu legen bedeutet, diesen Widerstand aufzugeben und mich ihm anzuvertrauen.
Es bedeutet, darauf zu vertrauen, dass Gott mich auf den bestmöglichen Weg führt – zu einer Veränderung, für die ich am Ende mit Sicherheit glücklich und dankbar sein werde.
Wie verändert uns Gott durch das stille Gebet?
Wenn wir uns im reinen Gebet für Gott öffnen, sitzen wir in Stille in seiner Präsenz.
Wir ‚schauen Gott‘ – wie es christliche Mystiker ausdrücken. In seiner Gegenwart beginnt er, auf uns zu wirken.
Die Veränderung unseres Wesens ist unvermeidlich.
Die geschieht langsam, aber stetig. Oft wird ihre Wirkung erst nach Wochen oder Monaten sichtbar.
Wenn wir es zulassen, kann Gott eine tiefgreifende Veränderung in uns bewirken.
Eine Weisheit beginnt in uns zu wirken und uns zu führen, die die unsere um ein Vielfaches übersteigt. Das Ergebnis wird besser sein, als wir es uns je vorstellen können.
Das habe ich am eigenen Leib erfahren dürfen.
Durch die Erfahrungen, die ich in den nächsten Abschnitt schildere, wird das noch deutlicher werden.
2.6.5 Wie mir Gott das Prinzip der Reue offenbarte
Das Konzept von Reue hatte für mich oft einen bitteren Beigeschmack. Es fühlte sich manchmal an wie ein Sich-selbst-kleinmachen oder Abwerten.
Ich fragte mich, warum Gott unsere Reue braucht, wenn er uns doch vollkommen liebt.
Ich will ja auch nicht, dass meine Kinder bereuen, wenn sie mich verletzt haben. Mir genügt es, wenn sie sich wieder öffnen. Dann kann auch ich mich wieder öffnen, und alles ist gut – die Liebe kann wieder fließen.
Wie Gott mir diesen inneren Schritt offenbart hat, war eine echte Überraschung.
Ich schildere es anhand einer Erfahrung.
Es war eine Phase, in der im Gebet immer wieder Situationen aufkamen, in denen ich lieblos gehandelt hatte. Eigentlich war ich überzeugt, ein liebevoller Mensch zu sein. Doch diese Situationen zeigten mir ein anderes Bild von mir selbst. Über einige Zeit hinweg wirkte das auf mich ein.
Ich begann, es zuzulassen, und akzeptierte das veränderte Bild von mir.
Daraufhin stellte sich eine traurige Stimmung ein, die einige Tage anhielt.
Kein Mensch ist einer himmlischen Tröstung Wert der nicht zuvor in der Schule der heiligen Zerknirschung fleißig sich geübt hat.
Soll dein harter Sinn erweicht / dein verschlossenes Herz wieder aufgetan werden / so geh in deine Kammer und lass den Tumult der Welt nicht hinein.
Wie die Schrift sagt: in euern Kammern redet mit eurem Herzen / bis sie wund und weich werden.
Dann geschah etwas Unbeschreibliches.
Meine Frau und ich fuhren zum Baumarkt, um Material für die Renovierung zu kaufen. Als ich das Geschäft betrat, überkam mich plötzlich ein starkes Liebesgefühl.
Ich empfand eine ungewöhnlich tiefe Liebe für alle Menschen – am liebsten hätte ich alle in den Arm genommen.
Es dauerte nicht lange, bis die Menschen darauf reagierten. Eine Verkäuferin sagte mir, sie werde sehr traurig sein, wenn meine Renovierung abgeschlossen sei und ich nicht mehr komme. Es entwickelte sich ein langes, sehr persönliches Gespräch – etwas, das in einem Baumarkt eher ungewöhnlich ist. An einem Ort, an dem Handwerker ihr Material besorgen, geht es sonst eher rau zu.
Das Erstaunliche an dieser Erfahrung war:
Diese Liebe, die ich empfand, kam nicht aus mir selbst.
Ich fühlte sie zwar in meinem Herzen, aber es war kein gewöhnliches Gefühl. Sie hatte eine außergewöhnliche Intensität, und ich fühlte mich von ihr ergriffen.
2.6.6 Das Prinzip der Reue
Reue ist der wirkungsvollste Schritt, um die Gnade Gottes zu empfangen. Gott braucht unsere Reue nicht, weil er sonst nicht vergeben könnte. Er will uns auch nicht kleinmachen.
Seine einzige Motivation ist es, uns reich zu beschenken.
Ob wir es verdient haben oder nicht, spielt keine Rolle – Gottes Liebe kennt keine Grenzen.
In der zuvor geschilderten Erfahrung wurde deutlich, dass Gott mir seine Gnade schenken wollte.
Er wollte seine Liebe in mein Herz legen.
Doch ich war noch nicht offen und bereit dafür.
Ich glaubte, ein liebevoller Mensch zu sein, weil ich mich oft bemühte, liebevoll zu sein und andere nicht zu verletzen.
Es brauchte jedoch eine innere Vorbereitung, um diese Gnade empfangen zu können.
Diese geschah durch die Reflexion meiner eigenen Lieblosigkeit in vielen Situationen. Dann folgte der entscheidende Schritt:
Ich musste annehmen, was Gott mir zeigte.
"Ja! Es ist wahr, dass ich oft lieblos bin."
Erst durch dieses Annehmen entstand die Traurigkeit über meine eigene Lieblosigkeit – das Gefühl der Reue.
Reue ist ein ganz natürliches Gefühl, das aufkommt, wenn wir erkennen, dass wir etwas getan haben, das nicht gut war. Sobald wir es an unser Herz heranlassen - und das ist die wichtigste Voraussetzung - wird unser Herz darüber traurig.
Diese Traurigkeit eines offenen, aufrichtigen Herzens ist Reue.
Und genau dieses Herz braucht Gott, um uns seine Gnade zu schenken.
Die Schritte sind also folgende:
- Schmerzhafte Selbsterkenntnis zulassen
- Die gezeigte Wirklichkeit annehmen
- Das Gefühl der Reue zulassen
- Die Gnade empfangen
Schlussendlich kann man sagen, dass man sich freuen kann, wenn einen etwas zur Reue führt. Es ist ein Zeichen dafür, dass ein großes Geschenk für uns bereitliegt.
Es braucht nur einen kleinen Schritt unsererseits, um es zu empfangen.
2.6.7 Wiederherstellung durch Wiedergutmachung
Laut christlicher Vorstellung hat ein Ereignis, das als Sündenfall bezeichnet wird, am Anfang der Menschheitsgeschichte ein Problem verursacht. Seitdem sind wir Menschen nicht mehr von Natur aus in einer unmittelbaren Nähe zu Gott.
Der Weg, den die Menschheit zurück zu Gott gehen muss, wird als Wiederherstellung bezeichnet.
Auf diesem Weg wirkt das Prinzip der Wiedergutmachung.
Es besagt, dass der Mensch, um zu Gott zurückzukehren, etwas opfern muss. Im Alten Testament wurden materielle Dinge wie Tiere geopfert. In der asketischen Praxis geschieht dies beispielsweise durch Fasten. Auf dem inneren Weg vollzieht sich das Opfer oft in Form eines Prozesses, der mit einer Zeit des Leidens verbunden ist.
Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.
Im Göttlichen Prinzip wird dies wie folgt erklärt: Eine Person, die Verantwortung für die Wiederherstellung übernimmt, muss über eine gewisse Zeit eine Bedingung erfüllen – oft mit symbolischen Zeiträumen mit der Zahl 40 oder 21. Dafür gibt es zahlreiche biblische Beispiele, etwa die 40 Tage des Fastens von Mose oder Jesus.
Das Prinzip der Wiedergutmachung im Buddhismus
Auch im Buddhismus ist das Prinzip bekannt, dass der mystische Weg zur Erleuchtung durch schwierige Perioden und leidvolle Erfahrungen führt.
Der Achtfache Pfad bietet die Praxis zur Befreiung, die oft mit Entsagung, Achtsamkeit und innerer Disziplin verbunden ist.
Meditation und Selbsterkenntnis spielen dabei eine zentrale Rolle, um die wahre Natur der Existenz zu erkennen und endgültig aus dem Kreislauf des Leidens auszubrechen.
Sharon Salzberg, eine bekannte amerikanische buddhistische Lehrerin, beschreibt, wie befreit sie sich fühlte, als sie erkannte, dass Leiden zum Weg gehört. Nicht weil wir etwas falsch machen oder unwissend sind, müssen wir leiden – nein,
Leiden ist ein wesentlicher Bestandteil des Weges.
Wiederherstellung durch Wiedergutmachung in der Meditation
Das Prinzip der Wiederherstellung durch Wiedergutmachung kann auf dem Weg der Meditation und des Gebets direkt erfahren werden.
Leiden äußert sich in Phasen, in denen man durch Zustände geht, die unangenehm bis schmerzhaft sein können.
Es beginnt mit den automatischen Gedanken, die unser Bewusstsein immer wieder vereinnahmen, unangenehmen Empfindungen und Gefühlen bis hin zur Wahrnehmung einer geistigen Atmosphäre, die bedrückend sein kann.
Die christlichen Glaubensväter beschreiben, wie Dämonen ihnen ständig Gedanken einflößen und sie mit Versuchungen quälen. Erst wenn sie dies standhaft durchgestanden haben, erfahren sie die Gnade himmlischer Tröstungen wie Glückseligkeit, Liebe und Freude.
Den großen Geschenken der Gnade und mystischen Erfahrungen geht meist eine Phase innerer Leere und unangenehmer Zustände im Gebet voraus.
Die „dunkle Nacht der Seele“ wurde bereits als eine der großen Wiedergutmachungsperioden erwähnt. Doch es gibt auch kleinere Phasen von nur wenigen Wochen oder Tagen. Jede Meditation beginnt häufig mit einer unangenehmen Zerstreuung, die uns nach einer Weile in einen angenehmen, klaren und offenen Zustand führt. Tiefe Meditationszustände sind immer mit innerer Freude verbunden.
Zu dieser Transformation müssen wir jedoch eine gewisse Art von Leiden durchleben.
Die Bereitschaft zu leiden spielt eine entscheidende Rolle.
In der Meditation erleben wir Empfindungen und Zustände unmittelbar und bewusst. Im Alltag hingegen versuchen wir oft, uns schnell abzulenken. In der Meditation jedoch gehen wir mit vollem Bewusstsein in diese Zustände hinein.
Wir erleben aber auch, dass das Unangenehme sofort seinen Schrecken verliert und seine Qualität verändert, sobald wir ihm mit Achtsamkeit begegnen und unsere Aversion dagegen aufgeben. Eine zuvor sehr unangenehme Körperempfindung, wie eine schmerzhafte Anspannung, wird dadurch zu einer neutralen Empfindung von Spannung.
Durch die Bereitschaft zu leiden verringert sich das Leiden.
So gesehen ist die Bereitschaft zu leiden das kraftvollste Mittel, um das Leiden zu überwinden.
2.6.8 Die Gnade Gottes
Gottes Gnade ist eine unbeschreibliche, reale Kraft, an die wir durch den religiösen Weg anknüpfen können.
Sie ist eine Ressource, die es in der Psychotherapie nicht gibt. Im Grunde ist es erst die Gnade, die den Weg zu Gott überhaupt möglich macht. Wie schwierig wäre es, wenn wir die ganze Veränderung allein bewirken müssten?
In der Psychotherapie arbeitet man daran, sich Verhaltens- und Reaktionsmuster bewusst zu machen, um anschließend neue Muster zu entwickeln.
Das ist mühsame Kleinarbeit. Auch in einem wahrheits- oder ethikfokussierten religiösen Leben reflektieren wir uns selbst und bemühen uns, uns zu verbessern.
All das ist wertvoll, und wir sollten diese Möglichkeiten nutzen.
Doch erst die Gnade Gottes bringt uns zu unserem wahren menschlichen Potenzial.
Als Kinder Gottes sind wir nicht auf uns allein gestellt
– wir werden zum Objekt seiner Gnade.
Unsere wesentliche Aufgabe ist es, uns dafür zu öffnen. Der mystische Weg führt uns auf direkte Weise in die Erfahrung der göttlichen Gnade.
Das aufrichtige Herz das Gott sucht
Das Wichtigste im religiösen Leben ist ein aufrichtiges Herz, das sich nach Gott sehnt – denn diese Sehnsucht selbst ist Liebe zu Gott.
Dieses Herz führt uns zurück zu ihm.
Durch den Gebetsweg finden wir wieder Zugang dazu. Genau dieses Herz treibt Mystiker an, ihren Weg zu gehen. Es gilt, diese Liebe in uns neu zu entdecken und unser Herz dafür zu öffnen.
2.7.1 Phänomen 4: Auflösung der Ego-Identifikation
Die Auflösung der Ego-Identifikation ist eine Betrachtungsweise die aus mystischen Traditionen, insbesondere Hinduismus und Buddhismus stammt. Sie beschreibt einen inneren Prozess in dem wir uns von dem selbstzentrierten Selbst lösen und unser Bewusstsein erweitern.
In diesem Zustand wird das "Ich" nicht mehr als getrennt oder isoliert wahrgenommen, sondern als verbunden mit dem universellen Geist oder der Ganzheit (Gott) und allen Wesen.
Wir beginnen zunächst mit einer philosophischen Betrachtung.
Philosophische Betrachtung
Im Buddhismus bedeutet die Überwindung des Egos, die Illusion eines festen Selbst zu durchschauen und egozentrische Anhaftungen loszulassen.
Das Ego ist nicht zu töten, sondern zu durchschauen. Es ist eine Illusion, ein Prozess, kein festes Ding.
Im Buddhismus führt Achtsamkeit, Weisheit und Mitgefühl zur Auflösung der Identifikation mit vergänglichen Gedanken und Gefühlen – und damit zur inneren Freiheit.
Unterschiedliche Bezeichnungen für das wahre Wesen und das Ego
Der Buddhismus unterscheidet zwischen dem wahren Wesen und dem Ego.
Im Göttlichen Prinzip entsprechen dem die Begriffe „ursprüngliches Gemüt“ oder Herz und „gefallene Natur“, ähnlich wie im christlichen Sprachgebrauch.
Das Göttliche Prinzip beschreibt vier Hauptaspekte der gefallenen Natur, die ihren Ursprung im Sündenfall haben. Da nur diese vier Hauptaspekte genannt werden, bleiben viele weitere daraus resultierende Aspekte unerwähnt.
Der Buddhismus hingegen benennt 108 Trübungen und Befleckungen – darunter Gier, Hass und Verblendung –, die es zu überwinden gilt.
2.7.2 Exkurs: Unsterblichkeit der Seele, Reinkarnation und Karma
Mit den Gedanken zur Auflösung des Egos berühren wir bedeutende spirituelle Fragen, die ich in diesem Exkurs behandeln möchte. Dazu werde ich verschiedene Perspektiven unterschiedlicher Religionen zu den Themen Unsterblichkeit der Seele, Reinkarnation und Karma gegenüberstellen.
Mir geht es zum einen darum, über den Tellerrand hinauszublicken, zum anderen darum, die Herkunft von Glaubensinhalten aufzuzeigen.
Zurück zu den Wurzeln des Glaubens
Viele spirituelle Suchende werden von kommerziellen Angeboten angezogen, in denen oft altes Wissen lediglich neu verpackt und ansprechend aufbereitet wird. Viele machen sich nicht die Mühe, sich mit den ursprünglichen Quellen der großen Religionen auseinanderzusetzen.
Ich habe meine Zweifel, ob man auf diesem Weg wirklich bis zu Gott geführt werden kann. Denn die unpopulären Aspekte des spirituellen Weges - wie Demut, Reue und Wiedergutmachung - bleiben in solchen Angeboten meist außen vor.
Doch es führt kein Weg zu Gott, der daran vorbeigeht.
Spiritualität: Zwischen wahrem Weg und spirituellem Konsum
Es besteht auch die Gefahr, sich in immer neuen spirituellen Angeboten zu verzetteln und dabei den Kern des Weges aus den Augen zu verlieren.
Echte Spiritualität lässt sich nicht konsumieren – ja, sie bedeutet sogar das Gegenteil: in Bescheidenheit, Einfalt und die Stille nach innen zu gehen.
Das Hauptziel auf einem echten spirituellen Weg ist nicht, dass es uns kurzfristig gut geht, sondern Gott zu finden. Dazu müssen wir manchmal geliebte Dinge loslassen und opfern.
Hier zeigt sich eine deutliche Unterscheidung in der Ausrichtung.
Wir können uns immer wieder fragen, was wir wirklich suchen, um unsere Ausrichtung zu erkennen und gegebenenfalls zu korrigieren.
Gleichzeitig möchte ich nicht verurteilen, wer durch moderne spirituelle Angebote erste Berührungspunkte findet. Jeder Weg beginnt irgendwo - und manchmal führt ein oberflächlicher Einstieg letztlich doch in größere Tiefe.
Entscheidend ist, dass wir uns immer wieder fragen, ob wir der Wahrheit näherkommen, ob unser Herz sich wandelt und ob wir wirklich bereit sind, auch den unbequemen Teil des Weges zu gehen.
Aufrichtige Suche führt uns in die Tiefe unseres Inneren
Letztendlich müssen wir dahin gelangen, dass wir von Gott selbst in unserem Inneren geführt werden. Kein Angebot, kein Lehrer und kein Meister kann dies ersetzen.
Dies jedoch setzt eine wirkliche innere Transformation voraus.
Der Lehrer, der euch am nächsten steht, ist euer eigenes, ursprüngliches Gemüt. Ihr solltet lernen, auf das zu hören, was euer ursprüngliches Gemüt euch sagt.
Diesen Zustand müsst ihr erreichen. Der buddhistische Ausdruck wäre, dass ihr euere innere Natur reinigen müßt.
Wer aufrichtig sucht, wird früher oder später die Tiefe entdecken, die echte spirituelle Traditionen bereithalten.
Unsterblichkeit der Seele, Reinkarnation und Karma im Buddhismus
Der Buddhismus geht in seiner Sichtweise der Auflösung des Egos noch einen Schritt weiter: Es gibt kein dauerhaftes Selbst und keine unsterbliche Seele, die von Leben zu Leben wandert – und somit auch keine bleibenden Geistwesen.
Wiedergeburt wird durch das Gesetz des Karma erklärt – die Wirkungen von Taten, Worten und Gedanken. Diese hinterlassen eine Art energetische Spur, die nach dem Tod weiterwirkt. Man kann es sich wie eine Kerzenflamme vorstellen, die eine neue Kerze entzündet: Die Flamme ist nicht dieselbe, aber durch Ursache und Wirkung verbunden.
Die Ahnenverehrung im Buddhismus scheint auf den ersten Blick im Widerspruch zum Glauben an die Nicht-Existenz einer ewig bestehenden Seele zu stehen. Da es im Buddhismus kein dauerhaftes Selbst gibt, existieren die Ahnen nicht als seelische Persönlichkeiten in einer geistigen Welt.
Verehrt wird vielmehr die spirituelle und kulturelle Verbundenheit mit den Vorfahren – ein Ausdruck von Dankbarkeit und Respekt. Dabei fließen auch kulturelle und konfuzianische Einflüsse mit ein.
Die Vorstellung einer vollständigen Auflösung des Selbst und die buddhistische Lehre von der Nicht-Existenz einer unsterblichen Seele ist für viele Menschen schwer nachvollziehbar.
Ich persönlich kann diese Vorstellung insofern einordnen, als sie aus der mystischen Erfahrung des Buddha hervorgegangen ist. In dieser Erfahrung erlebte er die vollkommene Einheit und die Auflösung des persönlichen, individualistischen Ichs, was ihn zur vollkommenen Freiheit führte.
Um Menschen auf dem Weg zur Erleuchtung zu begleiten, kann diese zutiefst mystische Perspektive hilfreich sein, da sie hilft, individuelle Anhaftungen konsequent loszulassen.
Es gibt auch buddhistische Schulen (Volksbuddhismus, Tibetischer Buddhismus, Yogācāra-Schule, Reines-Land-Buddhismus), die seelenähnliche Konzepte kennen und von zwischenzeitlichen Existenzbereichen in einer geistigen Welt ausgehen, die Himmel und Hölle ähneln.
Auch in diesen Traditionen endet die individuelle Existenz letztlich in der vollständigen Auflösung im Zustand des Nirvana.
Reinkarnation im Zen-Buddhismus
Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass Reinkarnation im Zen-Buddhismus kaum eine Rolle spielt. Die Praxis konzentriert sich ganz auf die direkte Erfahrung des gegenwärtigen Moments, auf Achtsamkeit, Zazen (Sitzmeditation) und die Auflösung des Ich-Gedankens im Hier und Jetzt.
Viele Menschen, die in Japan mit Zen-Religionsunterricht aufgewachsen sind – wie etwa meine Frau –, berichten, dass Wiedergeburt dort nie thematisiert wurde.
Im Zen geht es weniger um metaphysische Spekulationen, sondern darum, das eigene Denken zu durchschauen und unmittelbar zu erwachen.
Erinnerung an frühere Leben durch Tancemethoden
Im Westen gibt es Trancemethoden, mit denen sich Menschen an frühere Leben zu erinnern glauben.
Aus buddhistischer Sicht wären solche „Erinnerungen“ jedoch keine Rückschau eines ewigen Ichs, sondern Projektionen des Ego-Bewusstseins - letztlich also Illusionen.
Trancezustände, die Bilder und Vorstellungen über das Selbst hervorbringen, gelten grundsätzlich als Illusionen des Egos und nicht als spirituelle Einsichten, die zur Befreiung führen.
Im Hinduismus hingegen gilt die Seele (Ātman) als ewig und wird von Leben zu Leben wiedergeboren. Erinnerungen an frühere Leben sind hier grundsätzlich möglich, gelten aber als seltene Gnade oder als Ausdruck fortgeschrittener spiritueller Reife.
Sie sind also aus hinduistischer Sicht nicht einfach durch Techniken wie Hypnose beliebig herbeizuführen.
Wiedergeburt und geistige Wiederkehr
Viele Menschen im Westen, die an Reinkarnation glauben, verbinden diese mit der Vorstellung einer unsterblichen Seele, die nach dem Tod in einem neuen Körper geboren wird – eine Idee, die vor allem aus dem Hinduismus stammt.
Im klassischen Christentum selbst ist Reinkarnation jedoch nicht vorgesehen.
Auch das Göttliche Prinzip geht von einem einmaligen Erdenleben aus, in dem der Mensch durch gelebte Beziehungen geistig reift. Zudem entfaltet er sich als Paar zum vollständigen Abbild Gottes, was sich über die Familie hinweg bis zur gesamten Menschheitsfamilie ausdehnt.
Nach dem Tod setzt sich diese Entwicklung in der geistigen Welt fort - jedoch ohne körperliche Wiedergeburt. Der Mensch bleibt eine ewige Seele mit Verantwortung.
Im Göttlichen Prinzip gibt es keine körperliche Wiedergeburt, sondern eine geistige Wiederkehr (Auferstehung durch Wiederkehr). Dabei können Geistwesen durch eine spirituelle Beziehung mit auf der Erde lebenden Menschen weiterwachsen.
Bedeutung des Körpers für geistiges Wachstum
Dieser Prozess basiert auf der Übertragung von Vitalitätselementen vom Körper zum Geist, die durch gute Taten der Lebenden übermittelt werden.
Diese Vitalitätselemente sind für das grundlegende Wachstum des Geistes wichtig und notwendig, um seine Entwicklung auf einer höheren geistigen Ebene fortzusetzen.
Im Christentum ist der Körper ebenfalls wichtig für das geistige Wachstum, da er als Tempel des Heiligen Geistes betrachtet wird (1. Korinther 6,19). Der physische Körper wird als Werkzeug gesehen, durch das der Mensch Gottes Gebote ausführt und spirituelle Disziplinen wie Gebet, Nächstenliebe und Glaube praktiziert.
Im Christentum geht es darum, den Körper in Einklang mit göttlichen Prinzipien zu bringen und in der physischen Welt nach Gottes Willen zu leben, um sich geistig zu entfalten und das ewige Leben zu erlangen.
Auch im Buddhismus und Hinduismus ist der Körper bis zu einer gewissen Stufe notwendig für das geistige Wachstum, da er dem Geist ermöglicht, durch Erfahrungen, Handlungen und Achtsamkeit zu lernen und sich zu entwickeln.
Der physische Körper dient als Mittel, um Karma zu erfahren und spirituelle Lektionen zu erlangen, die für die Befreiung und Erleuchtung erforderlich sind.
Karma im Hinduismus
Im Hinduismus bedeutet Karma das Gesetz von Ursache und Wirkung auf moralischer Ebene: Jede Handlung – sei sie gut oder schlecht – hinterlässt eine Spur im Bewusstsein (Karmaspur) und beeinflusst das zukünftige Schicksal eines Menschen.
Karma wirkt über mehrere Leben hinweg: Die guten oder schlechten Taten eines Menschen bestimmen nicht nur das jetzige Leben, sondern auch zukünftige Wiedergeburten. Ziel ist es, durch gutes Karma spirituell zu reifen und letztlich Moksha – die Befreiung aus dem Kreislauf von Geburt und Wiedergeburt (Samsara) – zu erreichen.
Je nach philosophischer Schule im Hinduismus löst sich die Seele nach der Befreiung (Moksha) entweder in das göttliche Absolute auf (Advaita Vedanta) oder lebt als individuelle Seele in ewiger Einheit mit Gott in der geistigen Welt weiter (Vishishtadvaita, Dvaita).
Entsprechung von Karma im Christentum
Auch im Christentum existiert ein geistiges Prinzip von Ursache und Wirkung. Es zeigt sich in der biblischen Lehre von Saat und Ernte – was ein Mensch sät, das wird er auch ernten (Gal 6,7). Gute oder schlechte Taten tragen geistliche Folgen, die sich nicht nur im irdischen Leben, sondern auch in der geistigen Welt nach dem Tod auswirken.
Weitergabe von Schuld und Segen auf die nächste Generation
Zudem kennt das Christentum die Vorstellung, dass Segen und Schuld durch die Erblinie weitergegeben werden. Die Nachkommen können unter den Folgen früherer Sünden leiden – oder am geistigen Erbe guter Vorfahren teilhaben. Dieses Prinzip ähnelt in seiner Wirkung dem karmischen Verständnis von übertragenem Verdienst oder Belastung durch die Ahnen.
Im Hinduismus gibt es auch eine Vorstellung davon, dass karmische Auswirkungen über Generationen hinweg wirken können, sowohl im positiven als auch im negativen Sinne, und diese können durch Rituale oder spirituelle Praktiken verändert werden.
Im Buddhismus ist Karma individuell und es gibt keine direkte Lehre, dass Sünden oder negatives Karma von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden, obwohl das Umfeld durch das Verhalten der Vorfahren beeinflusst werden kann.
Gemeinsamkeiten verschiedener spiritueller Traditionen
Die Gemeinsamkeit, die wir in allen Religionen finden, ist, dass im Laufe der spirituellen Entwicklung das egozentrierte Selbst zu einem selbstloseren, in Liebe mit allem Verbundenen Wesen wird.
Das Leben geht nach dem Tod weiter - mit Ausnahme des Buddhismus - als eine unsterbliche Seele.
Das Wachstum einer unvollständig entwickelten Seele geht weiter bis zur vollständigen Befreiung in der Einheit mit dem Göttlichen – sei es durch Wiedergeburt oder geistige Wiederkehrt.
Entscheidend ist, dass es ein Ursache-und-Wirkungsprinzip gibt, und unser Handeln im Guten und Schlechten Folgen hat – sowohl für uns selbst als auch für unsere Nachfahren.
Die Einheit mit Gott und in der vollkommenen Liebe ist das zentrale Ziel aller Traditionen.
Wie wir uns die Dinge im Detail vorstellen, ist von zweitrangiger Bedeutung, solange wir die zentrale Richtung im Blick behalten und auf diesem Weg vorankommen.
2.7.3 Selbstverleugnung
Im christlichen Kontext wird der Prozess der Auflösung der Ego-Identifikation oft als Selbstverleugnung beschrieben.
Dabei wird jedoch meist nicht deutlich, dass es eine Ebene in uns gibt, die wir nicht verleugnen müssen.
Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es retten.
Das Leben, das wir retten sollen, ist das geistige Leben unseres wahren Selbst.
Das Leben, das wir verlieren, ist lediglich das Leben des Egos.
Da das Ego eng mit dem physischen Körper verbunden ist, könnte es auch als das physische Leben bezeichnet werden. Der geistige Prozess erfordert – solange wir mit dem Ego identifiziert sind – die Bereitschaft zu sterben, um in Kontakt mit dem göttlichen Wesen wiedergeboren zu werden.
Verleugnen sollen wir also das Ego, die selbstbezogene oder gefallene Natur.
Doch woran erkennen wir die Seite, die unsere ursprüngliche oder göttliche Natur – unser wahres Selbst – repräsentiert?
Eine Hilfestellung könnte sein, bestimmte Bedürfnisse, Verlangen und Verhaltensweisen in die Kategorien ursprüngliche Natur und gefallene Natur einzuordnen. Doch wenn wir uns ehrlich und tiefgehend reflektieren, merken wir, dass dies nicht ausreicht.
Solange wir nur versuchen, Persönlichkeitsstrukturen zu kategorisieren, bleiben wir auf einer oberflächlichen Ebene des individuellen Ichs,
und können die eigentliche Transformation nicht vollziehen.
Wir brauchen Kontakt zu unseren tieferen Wesensebenen, die über das individuelle Ich hinausgehen, um uns wirklich von der gefallenen Natur zu lösen.
Der fehlende Zugang zu tieferen Wesensebenen verursacht viele Probleme
Viele Probleme, die religiöse Menschen verursacht haben, entstanden, weil sie Verhaltensweisen und Menschen oberflächlich kategorisieren, ohne wirklichen Zugang zur tieferen Ebene gefunden zu haben – der Ebene, auf der wir substantiell mit Gottes Liebe in Resonanz kommen können.
Im wahren Kontakt mit Gott wären negatives Urteilen und überhebliches Richten über andere nicht mehr möglich – und würden keinen Sinn mehr ergeben.
Wenn du das Ich und das Mein aufgibst, was brauchst du dann noch mit Feinden oder Freunden?
Aus der Verbindung mit Gottes Liebe erhalten wir eine völlig neue Sicht auf uns selbst und andere Menschen.
Wir empfinden uns nicht mehr als vollständig getrennte Individuen, sondern als Teil einer untrennbaren Einheit.
2.7.4 Egoismus und Selbstlosigkeit
In Religionen spielt die Entwicklung zu einem selbstloseren Menschen eine zentrale Rolle. Sie beschreibt die grundlegende Richtung, die eine echte spirituelle Entwicklung nehmen muss.
Um diesen Prozess in uns zu vollziehen, müssen wir zwischen Selbstbezogenheit und Selbstlosigkeit unterscheiden.
In der Praxis erweist sich das jedoch oft als schwierig.
Die Problematik der Unterscheidung zwischen Selbstlosigkeit und Selbstbezogenheit
Veränderung im Prozess der Entwicklung
Ein Säugling kann nur auf seine eigenen Bedürfnisse fokussiert sein. Man könnte sagen, dass der Mensch in einem maximal egoistischen Zustand geboren wird.
Wir erwarten jedoch, dass Menschen im Laufe ihrer Entwicklung zunehmend an das Gemeinwohl denken und sich dafür einsetzen.
Daher sollte man bei einer Bewertung immer auch das Alter mit berücksichtigen.
Bei Kindern und Jugendlichen tun wir das in der Regel ganz selbstverständlich.
Doch bei Erwachsenen unterscheiden wir meist nicht mehr zwischen einem Dreißigjährigen und einem Fünfzigjährigen – obwohl man bei gesunder Entwicklung mit fünfzig eigentlich selbstloser sein müsste als mit dreißig.
Selbstloses Verhalten bedeutet noch nicht, selbstlos zu sein
Auch viele soziale Aktivitäten befriedigen unsere eigenen Bedürfnisse: Wir suchen positive Rückmeldungen, Anerkennung, Wertschätzung, wollen nicht alleine sein oder Teil einer Gemeinschaft sein.
Sozial engagiert zu sein bedeutet also nicht zwangsläufig, selbstlos zu sein.
Deshalb müssen wir unsere Motivation stets reflektieren und hinterfragen.
Negative Effekte der Unterscheidung bei bestimmten Psychodynamiken
Es gibt eine Ausnahme, in der der Versuch, selbstloser zu werden, nicht hilfreich ist.
Menschen, die in der Phase der Sozialisierung innerhalb der Familie zu früh zu viel Verantwortung übernommen haben. Zum Beispiel, wenn wir aus Angst vor dem Zerbrechen der Familie begonnen haben, uns emotional um einen Elternteil zu kümmern.
Dies kann zu einer ungesunden Bezogenheit auf andere führen. In solchen Fällen spüren wir stärker, was andere brauchen, und verlieren uns selbst aus dem Blick.
Doch das ist kein gesunder Altruismus – es bleibt Teil des Egos.
Dies sollte nicht verwechselt werden.
Menschen mit einer solchen Psychodynamik müssen zuerst lernen, sich selbst zu spüren und mit sich in Kontakt zu kommen, bevor sie zu Gott finden können.
Hier würde der bewusste Versuch, selbstloser zu werden, lediglich die bestehende psychodynamische Struktur verstärken, anstatt die spirituelle Entwicklung zu fördern.
Laut dem Göttlichen Prinzip sorgt sich auch das ursprüngliche Gemüt in gewissem Maße um sich selbst.
Das Göttliche Prinzip stellt zudem klar, dass der Zweck des Ganzen grundsätzlich auch den Zweck des Einzelnen umfasst. Bis zu einem gewissen Grad gehören der Fokus auf Selbsterhalt und Vitalität also zur ursprünglichen Natur.
Auch hier ist das Ziel des religiösen Weges, ein selbstloses Wesen zu werden. Das ursprüngliche Gemüt wird belebt und von der gefallenen Natur befreit, sodass es zur primären Motivation unseres Seins wird.
Fazit
Wenn wir genauer hinschauen, wird deutlich: Die Einteilung in Egoismus und Selbstlosigkeit kann leicht zu Missverständnissen führen.
Solche Kategorien verleiten zu vorschnellen Urteilen und können im inneren Prozess zu Fehlentscheidungen führen.
Gerade im feinen Prozess der Selbsterkenntnis verzerren sie oft den Blick, verstellen den Zugang zu einer tieferen Auseinandersetzung und behindern damit eine echte Selbsterkenntnis.
Diese Einteilung dient lediglich als grobe Orientierung.
Es ist unbestritten, dass wahres geistiges Wachstum selbstlose Menschen hervorbringt.
Doch nicht jeder Blickwinkel kann uns zuverlässig durch diesen inneren Prozess leiten.
Ein Blickwinkel, der den Weg zur Selbstlosigkeit unterstützt
Auf meinem spirituellen Weg hat mir die Suche nach meinem selbstlosen wahren Selbst mehr geholfen als die äußere Bewertung meines Verhaltens.
Im Innersten sind wir selbstlose Wesen. Dieses innerste Wesen muss lediglich belebt und von dem oberflächlich selbstzentrierten Ego befreit werden.
Dieser Weg führt uns durch einen inneren Suchprozess, in dem wir unsere Ego-Identifikation erkennen und sie allmählich loslassen.
Das Ergebnis ist eine natürliche Transformation hin zur Selbstlosigkeit – durch die Befreiung unseres selbstlosen innersten Wesens.
Im Folgenden möchte ich die Sichtweise näher beschreiben, die mir auf meinem Weg geholfen hat – und die innere Transformation, die damit einherging.
2.7.5 Meine Betrachtung: Wahres Wesen und Ego
In meinem inneren Prozess hat mir besonders die folgende Betrachtungsweise geholfen, weil sie die verschiedenen Ebenen unseres Wesens klar unterscheidet.
Wir sind das wahre Selbst und haben ein Ego.
Das Ego entsteht aus dem Verhaftetsein in unserem persönlichen, individuellen Denken, Fühlen und Wollen – sowie aus unseren persönlichen Wünschen und Bedürfnissen.
Dieses Konstrukt von „Selbst“ und „Ich“ ist so stark, dass es uns schwerfällt, uns davon zu lösen.
Doch genau dieses Loslassen oder Erweitern unseres Bewusstseins ist notwendig, um unser ursprüngliches Wesen zu erkennen und zu befreien.
Es ist notwendig, um uns für Gott zu öffnen.
In der Mystik nähern wir uns diesem Phänomen in neuer Tiefe.
Wir erkennen, dass das Problem darin besteht, dass wir uns zunächst vollständig mit unserem persönlichen Denken, Fühlen und Wollen identifizieren – doch dies macht nur den oberflächlichen Teil unseres Wesens aus.
Durch mystische Praxis löst sich diese Identifikation langsam auf. Dieser Prozess geschieht schrittweise durch Meditation und Achtsamkeit.
In der Meditation nehmen wir Gedanken und Gefühle wahr, lassen unser Bewusstsein jedoch nicht von ihnen einnehmen. Unser Bewusstsein erweitert sich auf den Bereich unseres Wesens, der jenseits von Denken, Fühlen und Wollen liegt.
Eine interessante Frage lautet: Was sind wir, wenn wir nicht unser persönliches Denken und Fühlen sind?
Was bleibt von uns, wenn Denken, Fühlen und Wollen den Nullpunkt erreichen?
Diese Frage führt uns zu unserem wahren Selbst.
Solange wir uns noch mit diesem individualistischen Selbst identifizieren, können wir Gott in uns nicht wirklich erkennen.
2.7.6 Das Ego verursacht Unfreiheit und Leid
Das Ego möchte wahrgenommen, respektiert und wertgeschätzt werden und für andere besonders wichtig sein. Es strebt danach, dass seine Leistungen bis in alle Ewigkeit anerkannt und bewundert werden.
Das Ego ist eitel.
Es fühlt sich verletzt, wenn wir nicht gesehen oder ernst genommen werden. Es wird eifersüchtig und beleidigt, wenn es ignoriert und vergessen wird, während andere belohnt werden. Es wird getriggert, wenn es scheinbar jemand abwertet – auch wenn es nicht so gemeint war.
Es will am liebsten immer gewinnen. Wenn es einmal verliert, ist es geknickt und frustriert. Das Ego hat Angst, etwas zu verlieren, und ist gierig danach, immer mehr zu bekommen.
Wie stolz ist es auf seine eigene Meinung, obwohl es nur eine begrenzte Perspektive einnehmen kann!
Es vergleicht sich ständig mit anderen, versucht, sich aufzuwerten und sich besser zu fühlen, indem es andere abwertet.
Es strebt nach Lob und Anerkennung von anderen Menschen, bemüht sich dafür nach Kräften und verliert dabei den wahren Zweck aus den Augen.
Ihr alle wisst, wie ihr wirklich seid. Habt keine zu hohe Meinung von euch selbst.
Wie befreiend ist es, wenn man sich selbst nicht mehr so wichtig nimmt und keine hohe Meinung von sich hat.
Andere dürfen gerne besser sein, mehr bekommen – mehr Wertschätzung, Anerkennung und Aufmerksamkeit erhalten.
Alles entspannt sich, und wir werden frei.
Wir können uns auf das konzentrieren, was wirklich wichtig ist.
Kein ‚Ich‘, keine Probleme!
Das Ego sucht nach äußerer Liebe, findet jedoch keinen Zugang zur wahren Liebe, die von innen kommt.
Es strebt nach äußerem Glück und versperrt sich den Weg zu wahrer innerer Glückseligkeit, die nur in Gott zu finden ist.
Wenn wir es schaffen, uns von diesem Ego zu befreien, erfahren wir, wie einfach es ist, glücklich zu sein.
2.7.7 Der Prozess der Auflösung der Ego-Identifikation
Der Prozess der Auflösung der Ego-Identifikation lässt sich mit folgender Metapher veranschaulichen:
Stellen wir uns zwei Bäume vor, die nahe beieinander stehen. Der eine Baum symbolisiert das Ego, der andere unser wahres Selbst. Ein Mensch, der von einem zum anderen Baum gelangen will, ohne den Boden zu berühren, steht für unser Bewusstsein.
Es wäre äußerst schwierig, sich vom Ego-Baum zum wahren-Selbst-Baum zu bewegen, indem wir beide Hände, mit denen wir uns am Ego-Baum festhalten, gleichzeitig loslassen. Doch es wird möglich, sobald wir einen Ast des wahren-Selbst-Baumes ergriffen haben. Dann können wir – mit etwas Mut – die Hand vom Ego-Baum vollständig lösen und uns mit beiden Händen zur Seite des wahren Selbst schwingen.
Die kritischste Phase dieser Transformation ist der Übergang, in dem wir das Ego loslassen müssen, ohne bereits festen Halt im wahren Selbst gefunden zu haben.
Dies erfordert Glauben und Vertrauen in den mystischen Weg.
Wenn wir also eine erste Ahnung von innerer Freude und Frieden bekommen haben – bildlich gesprochen bereits mit einer Hand einen neuen Ast ergriffen haben –, dann ist es möglich, das Ego vollständig loszulassen.
Sich mit dem wahren Selbst zu identifizieren bedeutet nicht, dass das Ego verschwindet. Es bedeutet vielmehr, dass wir uns als wahres Selbst erfahren und das Ego aus dieser Perspektive heraus erziehen können.
Unsere beiden Ich: das wahre Selbst und das Ego
Eine Perspektive, die für mich in diesem Prozess sehr hilfreich war, ist die Unterscheidung zwischen zwei Ebenen bei der Verwendung des Wortes „Ich“ – dem Ego und dem wahren Selbst.
Wenn wir von „Ich“ sprechen, sollten wir uns bewusst machen, welche der beiden Wesensebenen wir meinen – das Ego oder unser wahres Selbst.
2.7.8 Der Prozess der Berfreiung von der Ego-Identifikation durch die Meditation
In der Meditation tauchen manchmal Gedanken auf, die wir für äußerst wertvoll halten. Diese wollen wir dann auf keinen Fall loslassen – sie erscheinen uns so genial.
Doch wenn wir ehrlich sind: Wissen wir noch, was wir vor einer Stunde oder gestern gedacht haben?
Das meiste ist vergessen, und Gott sei Dank!
Ich habe hunderte Male im Gebet erlebt, dass ich in einem relativ tiefen Zustand gedanklich zu Lehren beginne. Daraus entstehen oft gute Anregungen für Vorträge.
Früher bin ich dort immer hängen geblieben und habe manchmal sogar die Gedanken aufgeschrieben.
Doch dann wagte ich es, diese loszulassen und mich noch ein Stück weiter für Gott zu öffnen.
In diesen Momenten hatte ich meine tiefsten Gebetserlebnisse.
Sie öffneten in mir eine Ebene, die noch tiefer war. Diese Erfahrungen wurden dann die Grundlage für die besseren Vorträge.
Ich habe nie etwas verloren, indem ich Gedanken und Ideen losließ.
Was wirklich wichtig ist, kommt wieder. Heute freue ich mich, wenn mein innerer Lehrer aktiv wird, und lasse ihn ohne Sorge los.
Durch die Erfahrungen in der Meditation erkennen wir, wie stark wir uns an unsere Gedanken klammern.
In dem Moment, an dem wir uns Gottes Präsenz im Gebet anvertrauen und die Gedanken loslassen, lassen wir ein Stück des Egos los.
Das ist eine entscheidende Übung auf dem religiösen Weg.
Es ist jedes mal ein kleiner Schritt in Richtung Nullpunkt-Zustand.
Der Zustand in dem wir uns vollkommen für Gott öffnen können.
2.7.9 Das Ego auf der Ebene der Gefühle
Nach der Ebene der Gedanken folgt die Ebene der Gefühle.
Ähnlich wie beim gedanklichen Teil des Egos sind wir mit unseren Gefühlen identifiziert. Wir erleben sie so, als wären wir unsere Gefühle. Sie loszulassen ist der nächste, tiefere Schritt.
Unser natürliches Bestreben ist es, uns ständig gut zu fühlen – so sind unser Körper und Gehirn konditioniert.
Auch unser ursprüngliches Gemüt genießt es, sich gut zu fühlen, jedoch nicht um jeden Preis.
Es stellt die Liebe an oberste Stelle.
Im menschlichen Leben ist es unmöglich, sich dauerhaft gut zu fühlen. Wie das Wetter wechseln unsere Umstände und damit auch unser Gefühlszustand ständig. Obwohl wir das wissen, neigen wir dennoch dazu, unsere Gefühle zum Maßstab aller Dinge zu machen.
Viele unserer Handlungen zielen darauf ab, uns besser zu fühlen. Das funktioniert zwar nie dauerhaft, doch wir halten an dieser Vorstellung fest.
Würden wir sie loslassen, würden wir uns vermutlich öfter gut fühlen.
Buddha lehrte, dass zwei der fünf Haupthindernisse auf dem Weg zur Erleuchtung Aversion und Verlangen sind.
- Aversion bedeutet die Ablehnung von allem, was unangenehm ist. Wir wollen uns von negativen Zuständen im Leben befreien und hegen eine Abneigung gegen Unangenehmes.
- Auf der anderen Seite steht das Verlangen nach etwas, das wir bekommen möchten. Dies mündet in Gier. Wenn wir etwas haben, entsteht die Angst, es wieder zu verlieren. Also versuchen wir, es festzuhalten.
Das Ego wird von Aversion und Verlangen gesteuert:
„Das mag ich nicht, das mag ich.“
Um diese Achse dreht sich sein Leben. Das Ziel dieses Spiels ist es, sich ständig gut zu fühlen.
Doch das Leben und die Wirklichkeit kümmern sich wenig um unser Ego.
Angenehmes kommt und geht, Unangenehmes kommt und geht – das können wir grundsätzlich nicht ändern. Leben bedeutet Wandel, es umfasst Freude und Schmerz, Gewinn und Verlust.
Dadurch, dass wir Unangenehmes ablehnen und Angenehmes festhalten wollen, entsteht zusätzliches Leiden.
Schmerz ist unvermeidlich, Leiden ist optional.
Das Ego erzeugt dadurch Konflikte, Leid und letztlich sogar Krieg und Selbstzerstörung.
Würden wir jedoch den Kreislauf des Kommens und Gehens – die Veränderung der Zustände – akzeptieren, wären wir frei.
Das lässt sich in der Meditation unmittelbar erfahren.
Befreiung durch Hingabe an den Moment
Ein Schmerz im Knie, den wir ablehnen, wird zu einem großen Problem, das uns vollständig vereinnahmt. Unser gesamtes Gemüt wird von der Ablehnung gequält.
Doch wenn wir es schaffen, den Schmerz als die Wirklichkeit des Moments anzunehmen, löst sich das dadurch erzeugte Leid auf.
Der ganze Körper kann sich entspannen, die Energie beginnt wieder zu fließen. Oft verschwindet der Schmerz sogar von selbst. Bei unangenehmen Emotionen gilt dasselbe Prinzip.
Das bedeutet natürlich nicht, dass wir nicht gut für unsere Gesundheit und unser emotionales Wohlbefinden sorgen sollen.
Es geht vielmehr darum, zu erkennen, wie sehr wir von diesen Mechanismen gesteuert und vereinnahmt werden.
Dieses Erkennen in uns selbst ist bereits der erste und wichtigste Schritt zur Befreiung.
2.7.10 Wahrer Gleichmut – der Schritt zu einer unveränderlichen Geisteshaltung
Gleichmut ist eine Geisteshaltung die uns von diesem gesteuerten Zustand befreit. Gleichmut bedeutet dass wir unbeeinflusst davon sind, wie wir uns fühlen oder wie die Umstände sind.
Wir verändern nicht unsere Geisteshaltung, weil sich die Umstände ändern.
Gleichmut bei einem Spiel würde bedeuten, dass es uns egal ist ob wir gewinnen oder verlieren. Es sind nur 2 Seiten einer Erfahrung. Einer verliert und ein anderer gewinnt.
Das bedeutet nicht dass wir Gleichgültig sind.
Wir investieren alles um zu gewinnen. Jedoch akzeptieren wir die Wirklichkeit hundertprozentig auch wenn wir verloren haben.
Dadurch erleben die Erfahrung des verlierens so wie sie ist und konstruieren kein unnötiges Drama daraus.
Das Wetter können wir nicht beeinflussen. Es sind die Umstände des Lebens. Einmal scheint die Sonne einmal regnet es. Wenn wir den Winter noch so hassen und den Sommer noch so lieben, wird es keine Stunde mehr oder weniger davon geben.
Das Wetter wie die Wirklichkeit zeigen vollständig unbeeidruckt von unserem Verlangen.
Ich freue mich, wenn es regnet, denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch
Das Wetter ist wie es ist, unser Gemüt kann damit hadern oder Gleichmütig sein. In der Haltung des Gleichmuts findet man vielleicht wieder Freude am Winter.
Es geht um ein tiefes inneres Annehmen der Wirklichkeit im gegenwärtigen Moment.
Gleichmut kann man leicht missinterpretieren und missverstehen. Oft werden östliche Philosopien dafür kritisiert zur Verantwortungslosigkeit zu neigen. Wahrer Gleichmut hat jedoch nichts damit zu tun unverantwortlich zu sein.
Wir verändern was wir verändern können zum Guten.
Aber was wir nicht verändern können nehmen wir so an wie es ist.
Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Auch etwas zum Guten verändern basiert darauf die Wirklichkeit zu erkennen und anzuerkennen.
Gleichmut bedeuet absolutes anerkennen was ist.
Das Annehmen und Aushalten der Wirklichkeit wie sie ist. Wir erzeugen kein unnötiges Leiden und hadern nicht mit ihr.
Verdrängung – Flucht vor der ungewollten Wirklichkeit und ihre Folgen
Psychologisch gesehen entstehen viele Probleme – etwa Neurosen oder Suchterkrankungen – dadurch, dass wir es mit uns selbst nicht aushalten. Wir verdrängen das, was wir nicht sehen und vor allem nicht fühlen wollen.
So entstehen destruktive psychodynamische Muster. Bevor wir zu einem Suchtmittel greifen oder einem Suchverhalten nachgehen, erleben wir in der Regel einen Moment innerer Unruhe, Leere oder Schmerz.
Wären wir in der Lage, diesen Zustand bewusst auszuhalten, müssten wir dem Drang nach Ablenkung oder Betäubung nicht nachgeben.
Suchtverhalten dient letztlich dazu, der unangenehmen Wirklichkeit auszuweichen – sie nicht anschauen und nicht fühlen zu müssen.
Gleichmut – eine unterschätzte Quelle spiritueller Reife
Wer wahren Gleichmut in sich verwirklicht hat, braucht nichts mehr zu verdrängen – denn er kann alles annehmen, wie es ist. Und im christlichen Sinne bedeutet das auch:
Er braucht nicht mehr zu sündigen, weil er nicht mehr aus Angst, Mangel oder Vermeidung handelt.
Wie Meditation zu Gleichmut führt
In der Mediation können wir Gleichmut erwerben und die Wirkung direkt erfahren.
Es liegt es nicht in unserer Macht zu bestimmen, wie eine Meditation verläuft – ob der Gemüt ruhig oder zerstreut ist, ob uns Gnade geschenkt wird oder nicht, ob angenehme oder unangenehme Empfindungen auftauchen.
Alles geschieht – oder eben nicht.
Indem wir immer wieder üben, jeden Zustand so anzunehmen, wie er ist, entsteht nach und nach ein tiefer Gleichmut.
Wir lernen, das Unangenehme nicht durch unsere gewohnten Reaktionsmuster aufzulösen, sondern durch Hingabe an den Moment selbst.
So erfahren wir den Wert des Aushaltens – und erleben immer wieder, dass gerade im Durchleben der Schwierigkeit ein Geschenk verborgen liegt.
Gnadenerfahrungen offenbaren sich oft dort, wo wir nicht ausgewichen sind.
Auch im Alltag erkennen wir zunehmend: Unangenehme Phasen werden oft von innerem Wachstum, Erfolg oder tiefem Frieden gefolgt.
Gleichmut hilft uns, diesen Prozess bewusst mitzutragen.
Wechselwirkung von Hingabe und Gleichmut
Durch das Gebet entwickeln wir Hingabe – eine Kraft, die es uns erlaubt, uns innerlich Gott zu nähern.
Sie führt in tiefere Meditation, in innigeres Gebet und in eine immer freiere Hinwendung zu Gott.
Durch die Erfahrungen, die wir im Üben dieser Haltung machen, wächst nach und nach ein stabiler Gleichmut.
Gleichmut wiederum befähigt uns zur vollständigen Hingabe – selbst an eine unangenehme Wirklichkeit.
Hingabe und Gleichmut nähren einander – und führen in die Weite der inneren Freiheit.
2.7.11 Demut und Dankbarkeit: die Schlüssel zum spirituellen Wachstum
Demut, Dankbarkeit und Großzügigkeit sind bedeutende Eigenschaften des ursprünglichen Gemüts.
Sie öffnen uns für Gott und schaffen die Voraussetzung, um Gottes Gnade zu empfangen.
Das ursprüngliche Gemüt braucht die Eigenschaften des Egos nicht. Verhaltensweisen wie das Vergleichen mit anderen existieren hier nicht.
Das Herz möchte Liebe geben und sich dem Leben für andere hingeben. Es ist dankbar für alles, was es geschenkt bekommt, und sich bewusst, dass alles im Leben ein Geschenk ist.
Alles Gute kommt von Gott
Emanuel Swedenborg berichtet von seinen Gesprächen mit Engeln – wobei er unter „Engeln“ Geistwesen versteht, zu denen auch menschliche Seelen gehören.
Sie wundern sich sehr über die Menschen auf Erden – besonders darüber, dass diese stolz auf sich sind und ihre guten Eigenschaften und Leistungen sich selbst zuschreiben.
Für die Engel ist es selbstverständlich, dass alles Gute von Gott kommt, einschließlich ihrer eigenen guten Eigenschaften und Fähigkeiten. Daher möchten sie für alles Gute, das geschieht und das sie erreichen, Gott danken und ihn lobpreisen.
Das spiegelt die Haltung des ursprünglichen Gemüts gut wider.
Demut ist göttlicher Schutz, welcher nicht zulässt, dass wir unsere Erfolge sehen.
Demut macht glücklicher
Das ursprüngliche Gemüt existiert in jedem von uns – es ist unsere innerste Natur und unser Herz. Auf dem mystischen Weg finden wir zu dieser Haltung zurück.
Sie macht uns glücklich und frei.
In dieser Haltung öffnet sich die Tür unseres Herzens, um Gottes Gnade und Liebe zu empfangen.
Die Pforte der Liebe ist die Demut, welche alle, die sich nähern, hereinführt.
Demut wird von buddhistischen und christlichen Mönchen, Nonnen und Mystikern gleichermaßen als sehr wichtig erachtet. Im orthodoxen Christentum gilt Hochmut als eines der Hauptprobleme des Menschen.
Im Christentum wird Hochmut als eine der schwerwiegenden Sünden betrachtet. Hochmut, oder Stolz, wird häufig als „Hauptursache“ für das menschliche Versagen angesehen, weil er den Menschen in seiner Beziehung zu Gott und zu anderen Menschen von der Demut und der Gottesliebe entfernt.
Hochmut wird oft als die „erste Sünde“ verstanden, da er die Ursache für den Fall des Teufels (Satan) und des Sündenfalls von Adam und Eva im Garten Eden sein soll. Der Hochmut stellt das eigene Ich über Gott und andere, was im christlichen Glauben als ein zentrales Problem des menschlichen Zustands gilt.
In allen christlichen Traditionen wird Demut als zentrale Tugend und Hochmut als schwerwiegendes Hindernis für das spirituelle Wachstum betrachtet, wobei Buße als ein wesentlicher Weg zur Reinigung und Umkehr dient.
Ich selbst erlebe Demut als sehr befreiend. Für mich fühlt es sich an, als könne man mit Demut überall mit Leichtigkeit hingehen. Sobald sie verloren ist, eckt man überall an und bleibt hängen.
Wenn ich beginne, stolz, hochmütig oder arrogant zu werden, verschließt sich schnell mein Herz – und Gottes Gnade kann mich nicht mehr erreichen.
Wenn die Meinung nicht mehr mit den natürlichen Vorzügen prahlt, ist das ein Zeichen beginnender Gesundheit.
Demut und Dankbarkeit sind wie ein Gradmesser dafür, ob man sich in einer guten geistigen Haltung befindet.
Wenn ihr während eures Gebetes viele geistige Erfahrungen habt, dann werdet ihr auferweckt.
Wenn ihr mit einem solchen Herzen voranschreitet, wird Gott euch mit Sicherheit helfen, noch bevor ihr daran denkt. Ihr solltet Sein Herz in allem empfinden, was ihr sagt und lehrt.
Sein Herz muss vor eurem Wort kommen, nicht danach.
Darum müsst ihr immer demütig sein. Darum müsst ihr ohne ein Wort nach hinten gehen. Wenn ihr das tut, dann werdet ihr das Herz Gottes vor euch fühlen. Warum ist das so?
Sein Herz wird euch zu jeder Zeit nach vorne ziehen. Solange ihr in einer solchen Position seid, könnt ihr eine Menschenmenge lehren, egal wie viele Leute vor euch stehen.
2.7.12 Der Weg zur wahren Demut
Wahre Demut ist nur möglich, wenn wir einen gewissen Zugang zu unserem wahren Wesen gefunden haben. Wären wir noch mit dem Ego identifiziert und wollten es erziehen, müssten wir unser gesamtes Wesen ständig kleinmachen.
Wenn wir jedoch Zugang zur inneren Freude gefunden haben, die uns die Verbindung zu Gott schenkt, können wir das Ego immer wieder von seinem hohen Ross herunterholen – ohne uns dabei schlecht zu fühlen.
Die Wertschätzung, die wir erfahren, wenn wir erkennen, dass Gott in uns real wohnen möchte, erfüllt uns in der Tiefe. Wir sind dann nicht mehr auf die Befriedigung des Egos angewiesen.
Aus wahrer Demut entspringt eine große Kraft. Sie versetzt uns in die Lage, uns ganz in den Dienst Gottes stellen zu lassen.
Eine Botschaft durch Martin Luthers Lebensweg
Ich habe ein Buch über Martin Luther (Martin Luther, der deutsche Reformator, von 1856) von einem großzügigen Freund geschenkt bekommen. Es vermittelt seinen Geist auf sehr direkte Weise. Das Lesen dieses Buches wurde für mich zu einer intensiven und bewegenden Auseinandersetzung mit Martin Luther.
In einem Gebet erhielt ich folgende Botschaft:
Wenn dich Gott nimmt, dann lass dich nehmen – dann geschieht Großartiges. Trotz deiner Unvollkommenheit, lass dich nehmen und vertraue auf Gott.
Der Mut, uns Gott anzuvertrauen, entspringt der Demut. Mut ist die andere Seite der Medaille der Demut – und steckt bereits in ihrem Wort. Martin Luther hat dies gelebt.
Schlusswort zu Kapitel 2
Dies war eine Beschreibung des inneren Weges, den mir Gott als Geschenk der Gnade offenbart hat – das, wonach ich über 40 Jahre, seit meiner Jugendzeit, gesucht habe.
Auch wenn ich noch ganz am Anfang dieses Weges stehe, habe ich verstanden, wie er grundsätzlich funktioniert. Diese Erfahrung möchte ich mit diesem Buch, in Workshops und in persönlichen Sitzungen weitergeben.
Die Erklärungen, die ich verwendet habe, sind vielleicht noch nicht alle ausgereift oder mit wissenschaftlicher Präzision ausgearbeitet. Vieles ist noch diskussionswürdig.
Dennoch hat mir dieses Verständnis ausgereicht, um zu diesen Erfahrungen zu gelangen – und genau darum geht es mir in erster Linie.
Ich möchte Menschen, unabhängig von ihrem Glauben oder ihrer Religionszugehörigkeit, die Praxis weitergeben, die uns eine direktere Erfahrung mit Gott ermöglicht.
Menschen, die bereits ein Glaubensleben führen und sich eine Vertiefung ihrer Spiritualität oder einen direkteren Zugang zur Gotteserfahrung wünschen, kann ich dabei unterstützen.
Wenn ich Menschen begleite, geht es mir in erster Linie darum, dass sie selbst dahin gelangen, von Gott geführt zu werden. Ich bin überzeugt, dass Gott jeden Menschen leitet. Oft müssen wir uns jedoch dafür öffnen und lernen, seine Führung zu verstehen.
Manchem mag das Ziel, mit Gott eins zu werden, viel zu groß erscheinen. Vielleicht empfindet er oder sie eine zu hohe Erwartung oder Druck. Manche haben auch Angst, ihre Individualität zu verlieren.
Hier kann ich beruhigen: Jeder beginnt genau dort, wo er ist, und wird in seinem eigenen Tempo von Gott weitergeführt. Wir können die Schritte nur gehen, wenn wir innerlich wirklich bereit dazu sind. Niemand kann uns zwingen oder drängen.
Es funktioniert nur aus freiem Willen und in stimmigen, kleinen Schritten.
Das Wichtigste ist auch nicht, wo wir geistig stehen, sondern die beruhigende und erfüllende Gewissheit, dass wir auf dem Weg zu Gott sind. Alles andere kommt zu seiner Zeit.
Ich hatte keinen lebenden Meister, wie es etwa in der buddhistischen Tradition üblich ist. Mein Meister ist Sun Myung Moon, der mich zunächst durch seine Ansprachen und später aus der geistigen Welt geführt hat.
Viel habe ich von den Mystikern gelernt. Es war immer ein intensives Erlebnis, mich eine Zeit lang mit der Literatur eines Mystikers zu beschäftigen. Anfangs hatte ich oft Widerstände und unangenehme Auseinandersetzungen mit ihren Gedanken. Doch nach Wochen entstand meist eine tiefe Liebe zu ihnen.
In den Momenten, in denen ich ihr Herz wirklich verstand, vergoss ich viele Tränen.
Noch heute überkommen mich tiefe Gefühle, und ich bekomme feuchte Augen, wenn ich ihre Bilder in meinem Gebetsraum betrachte. Einige von ihnen habe ich im Gebet als spürbare Präsenz erlebt. Ihnen gebührt, neben Gott, mein größter Dank.
2.8.1 Phänomen 5: Gottes Führung und Gnade erfahren
Nun habe ich bereits wesentliche Prozesse des Weges beschrieben.
Es ist nicht immer leicht zu verdauen, was der Weg zu Gott von uns abverlangt.
Nach der harten Arbeit auf dem Feld im Frühjahr reifen die Früchte langsam über den Sommer hinweg. Schließlich kommt die Erntezeit.
Genauso dürfen auch wir – wenn wir die Voraussetzungen geschaffen und die Phasen geduldig durchlebt haben – Gottes Gnade empfangen.
In diesem Abschnitt möchte ich das Prinzip erläutern, wie wir Gottes Gnade und Führung empfangen können.
Um dies greifbarer zu machen, werde ich einige persönliche Erfahrungen schildern.
2.8.2 Ich bin kein Arbeitgeber!
Es war eine Lebensphase, in der ich sehr viel arbeitete. Wir hatten ein fast 100 Jahre altes, sanierungsbedürftiges Haus gekauft. Unsere Vision war es, einen Wohnort und zugleich einen Ort für innere und spirituelle Entwicklung zu schaffen. Da nach dem Kauf kein Geld mehr übrig war, blieb uns nichts anderes übrig, als alles selbst zu machen.
Sieben Jahre lang tat ich kaum etwas anderes als arbeiten und beten.
Nach der Arbeit zog ich sofort meine Handwerkerhose an und arbeitete, bis meine Kräfte am Ende waren – meist bis 22 Uhr. Bis auf Ziegel und Balken erneuerten wir fast alles.
Nach einigen Jahren fühlte ich mich unter Druck. Ich war bereits Ende 50 und wollte unbedingt noch etwas für Gott tun. Doch der Arbeitsaufwand war so gewaltig, dass sich alles endlos hinzog.
Immer wieder fragte ich Gott, was ich in dieser Situation für ihn tun könnte.
Dann gab er mir eine Botschaft.
Ich hatte einen Traum mit ungewöhnlich klaren Bildern. In diesem Traum bewarb ich mich bei einer Firma um eine Arbeitsstelle. Noch war unklar, welche Position ich bekommen würde. Mir wurden verschiedene Aufgaben gezeigt – Büroarbeit oder technische Tätigkeiten. Doch keine dieser Aufgaben begeisterte mich besonders.
In einem längeren stillen Gebet geschah plötzlich etwas.
Ich hatte eine Einsicht – nicht nur eine intellektuelle Erkenntnis, sondern eine kleine Erleuchtung.
Es kam wie aus dem Nichts über mich.
Zunächst war es ohne Inhalt, ein reines geistiges Erleben, das aus einer Tiefe kam, die man im Nichts zu erahnen beginnt. Einen Moment später wurde es zu einem klaren Satz:
„Ich bin kein Arbeitgeber! Ich möchte nur durch dich da sein!“
Diese Botschaft überwältigte mich emotional. Noch heute bekomme ich Tränen in den Augen, wenn ich daran denke. Sie veränderte meinen Blickwinkel vollkommen.
Gott wollte nicht jemanden, der für ihn arbeitet – doch genau so hatte ich die Beziehung zu ihm gelebt. Ich hatte ihn wie einen Arbeitgeber behandelt, für den ich arbeiten konnte, um mir seinen Lohn zu verdienen. Ich glaubte, ihn zufriedenstellen zu können, wenn ich genug leistete.
Doch Gott rüttelte mich aus dieser begrenzten Vorstellung wach. Das war nicht die Beziehung, die er mit mir wollte.
Gott möchte in uns leben. Gott möchte sich durch uns manifestieren.
Diese Einsicht veränderte mein Gefühl zu Gott.
Nicht mehr der Druck, etwas vollbringen zu wollen, um Gott Freude zu machen, stand im Vordergrund. Stattdessen wurde mein Fokus, mich vorzubereiten und zu öffnen, damit Gott in mir wohnen kann.
Wenn Gott in erster Linie durch mich da sein will, dann kann er das in jedem Moment – während ich Putz von den Wänden klopfe, auf der Toilette sitze, spazieren gehe oder mit einem Menschen spreche.
Nicht die äußere Handlung ist entscheidend, sondern mein Bewusstsein und meine Liebe zu Gott in jedem Moment.
Was ich für Gott tun kann, entspringt dann nicht mehr meiner Überlegung und Planung, sondern entfaltet sich im Herzen in jedem Moment meines Lebens.
Jeder Moment wird so zu einem Ausdruck des Seins und Wirkens im Sinne Gottes.
2.8.3 Wie funktioniert die Beziehung zu Gott
Wenn wir uns durch die Suche nach Wahrheit und ein bestimmtes Gottesbild auf den Weg zu Gott machen, entwickeln wir oft eine Vorstellung von ihm. Unsere Beziehung zu Gott gestaltet sich dann entsprechend dieser Vorstellung.
Auf dem mystischen Weg jedoch suchen wir über das Gebet eine direkte Erfahrung mit Gott – und dabei gab es für mich einige Überraschungen.
Zu Beginn unseres Gebetslebens wenden wir uns Gott zu, ähnlich wie wenn wir mit einem Menschen sprechen. Wir haben ein Gegenüber, dem wir uns ausdrücken, und erwarten eine Reaktion.
Doch hast du jemals darüber nachgedacht, wie es möglich ist, mit Gott eins zu sein und gleichzeitig mit einem Menschen in Beziehung zu stehen?
Wir können nicht zu Gott beten und gleichzeitig mit jemandem sprechen – das würde unsere Aufmerksamkeit spalten. Das wäre unerträglich.
Die Beziehung zu Gott ist jedoch völlig anders als die zu einem Menschen.
Gott manifestiert sich nicht als Gesprächspartner im herkömmlichen Sinne, sondern als neues Gefühl in unserem Herzen.
Man könnte es als Resonanz bezeichnen – eine innere Schwingung, in der wir Gott in uns fühlen. Wir kommunizieren nicht mit Gott über Gedanken oder Worte, sondern erfahren ihn unmittelbar durch dieses innere Erleben.
Dadurch sind wir in der Lage, einem Menschen unsere volle Aufmerksamkeit zu schenken, ohne auch nur für eine Sekunde die Nähe und den Kontakt zu Gott zu verlieren.
2.8.4 Gott liebt uns mehr als wir uns vorstellen können
Wenn uns ein Mensch liebt, kann er für uns da sein, uns umarmen, uns aufmerksam zuhören, uns etwas schenken, uns unterstützen und verteidigen.
Verglichen mit der Liebe, die Gott uns geben möchte, ist das noch sehr wenig. Gott geht noch einen bedeutenden Schritt weiter.
Er möchte in uns wohnen.
Er möchte mit dem Wertvollsten, was er hat – seinem Herzen – mit dir persönlich eins werden.
Es ist die größte Wertschätzung, die vorstellbar ist, die größte Aufmerksamkeit, die möglich ist, die größte Hingabe, die denkbar ist, und das größte Geschenk, das es in diesem Universum gibt.
Alles möchte er uns darbringen.
Wie viel von seiner Liebe würde Gott uns wohl geben wollen?
Gottes Liebe wird nicht gemäß irgendwelcher Grenzen gegeben, die bestimmen, wie viel genug ist. Es ist eine Liebe, die unbegrenzt geben möchte. Selbst nachdem Er alles gegeben hat, wird Gott immer noch sagen:
„Ich möchte deinetwegen in dir leben.“
2.8.5 Das Prinzip von Offenbarungen
In einer bedeutenden mystischen Rede, in der Sun Myung Moon den Nullpunkt-Standard erklärt, spricht er auch über Offenbarungen. Er gibt einige Beispiele, wie diese übermittelt werden.
Das Feld eures Gemüts ist nicht flach wie eine Glasfläche, sondern es ist uneben.
Es besitzt die Form einer flachen Oberfläche, aber die Form selbst ist uneben. Wenn also ein himmlischer Strahl auf die unebene Fläche eures Gemüts trifft, dann wird er in eine Richtung reflektiert, die der des auftreffenden Strahls entgegengesetzt ist, genau wie bei der Reflexion des Lichts.
Visionen sind deshalb alle verschieden. Gott arbeitet auf diese Weise, um jeden Teil eures Gemüts zu erleuchten.
Grundsätzlich kommen Offenbarungen aus dem geistigen Bereich. Gott und die geistige Welt mit all ihren geistigen Wesen bilden diesen Bereich.
Die Kommunikation dort erfolgt nicht durch direkte Worte.
Wir brauchen keine Sprache, um zu kommunizieren. Wie genau das funktioniert, kann ich nicht sagen. Doch in meiner eigenen Erfahrung konnte ich das Prinzip erleben:
Eine geistige Botschaft kommt aus dem geistigen Bereich. In diesem Stadium besteht sie noch nicht aus Worten. Erst wenn sie auf unser geistiges Gemüt mit seiner individuellen Oberfläche trifft – wie es in der Rede beschrieben wird – wird sie zu einem inhaltlichen Satz. Erst dann kann sie in Bilder oder Worte gefasst werden.
Zusammenwirken von Ereignissen im Leben oder Träumen – die im Nachhinein zu Erleuchtungen werden
Anhand eines Beispiels könnt ihr seine Bedeutung erkennen:
Eine Person, die vorübergeht, sieht zufällig, wie ein Vogel von der Mauer eines schönen Hauses wegfliegt; auch nachdem der Vogel schon weggeflogen ist, erteilt die Beobachtung dieses Geschehens im Nachhinein noch eine Lehre.
Solche Phänomene werden geschehen. Solche Dinge werden in eurem täglichen Leben tatsächlich stattfinden. Die Zahl dieser bedeutungsvollen Beobachtungen wird sich mehren.
Ihr werdet Einblick in neue Zusammenhänge bekommen, während ihr jemanden reden hört. Solche Erfahrungen werden langsam zahlreicher werden.
In meinen Erfahrungen waren es oft Träume, die ich nur teilweise verstand.
Erst im Gebet wurden sie zu einer Erleuchtung, die mir ihre Botschaft offenbarte.
Genauso kann Gott durch Ereignisse in der Natur oder an einem bestimmten Ort im Alltag etwas aufzeigen. Auch wenn Menschen sprechen oder wir etwas hören, kann plötzlich eine solche Erleuchtung geschehen.
Eine geistige Erleuchtung lässt uns die Botschaft dann erkennen und verstehen.
Wenn wir viel beten und unsere geistige Empfindsamkeit geöffnet ist, können wir solche Erfahrungen häufiger machen. Wahrscheinlich geschehen sie oft, doch wir erkennen sie nicht oder sind nicht offen für die Erleuchtung.
Ihr werdet beginnen, in euren Träumen Offenbarungen zu erhalten, aber damit meine ich nicht die Träume, während ihr tief schlaft.
Der heilige Paulus erlebte den dritten Himmel, während er halb wach war. Lasst solche Phänomene nicht unachtsam an euch vorübergehen. Sammelt und analysiert die Daten wissenschaftlich, um herauszufinden, mit was sie euch verbinden wollen.
Das Ergebnis wird sicherlich erscheinen. Ihr werdet langsam erfahren, dass die Offenbarungen, die ihr in euren Träumen hattet und die ihr schwerlich vergessen könnt, in der Realität zu 100 Prozent wahr werden.
Ihr werdet solche Erfahrungen haben.
Wir sollen solche Offenbarungen also ernst nehmen und wertschätzen.
Gleichzeitig müssen wir darauf achten, nicht alles, was geschieht, als Offenbarung zu überinterpretieren. Das kann passieren, wenn wir auf der mentalen, intellektuellen Ebene stehen bleiben.
Ein entscheidender Satz im Zitat lautet:
"Das Ergebnis wird sicherlich erscheinen."
Hier kommt das geistige Phänomen der Erleuchtung ins Spiel. Erst durch geistige Empfindsamkeit öffnen wir uns für die Erleuchtung – das Erscheinen. Diese erlangen wir, wie beschrieben, durch Meditation und ein intensives Gebetsleben.
2.8.6 Eine persönliche Erfahrung mit Verheißungen
An einem 1. Januar hatte ich einen Traum von Sun Myung Moon. Er war sehr klar und real, und ich fühlte mich ihm sehr nahe. Er saß mit gekreuzten Beinen auf dem Boden, und ich genauso ihm gegenüber. Dann nahm ich seine Hand und betrachtete sie genau.
Ich sagte zu ihm: „Eine gute Hand.“ Er antwortete: „Gute Hand – gutes Herz.“ Dann nahm er meine Hand und sagte: „Auch eine gute Hand.“
Damit war der Traum schon vorüber.
Es war 3 Uhr morgens, und ich konnte nicht mehr schlafen. Also zog ich mich an und machte einen Spaziergang im Park. Dort sah ich einen Hasen – und dann noch einen. Irgendwie fühlte es sich besonders an. Es ist grundsätzlich nichts Ungewöhnliches, nachts Hasen zu sehen, aber es tauchten immer mehr auf, bis es schließlich fünf waren.
Fünf Hasen!
Plötzlich überkam mich ein Schauer, und ich erkannte die Parallele:
Eine Hand hat fünf Finger – und nun diese fünf Hasen.
Zudem repräsentiert der Mensch die Zahl 5 – 4 Gliedmaßen und den Kopf. Sofort erinnerte ich mich daran, dass Sun Myung Moon einmal sagte, Hasen seien ein gutes Verheißungszeichen.
Es folgte ein innerlich sehr schwieriges Jahr.
Doch während dieser Zeit sah ich immer wieder einen Hasen – und jedes Mal geschah kurz darauf etwas Gutes im Zusammenhang mit meiner mystischen Arbeit.
Beispielsweise entstanden die ersten Kontakte völlig überraschend. Ich konnte Menschen in Gesprächen bewegen, die dann den ersten Workshop organisierten. Auch vor dem ersten Probeworkshop mit meiner Familie sah ich wieder einen Hasen. Das ganze Jahr über gab es diese zusammenhängenden Phänomene.
Diese Ereignisse standen immer im Zusammenhang mit dem neuen mystischen Ansatz und dem Vorhaben, meine Erfahrungen weiterzugeben.
Vor dem Workshop hatte ich seltsamerweise immer wieder den Gedanken, dass ich nicht vor dem Workshop sterben durfte. Dieses Ereignis war für meine Aufgabe von großer Bedeutung. Ich fühlte stark, dass ich die Erfahrungen und die Botschaft, die Gott mir gegeben hatte, an die nächste Generation weitergeben musste.
Die Frage stand im Raum, ob ich bereit wäre, dafür zu sterben.
Ich sagte mir: Wenn ich danach sterbe, ist es nicht so schlimm - aber nicht davor. Irgendwie wurde das Thema Sterben oder nicht sterben vor diesem Workshop zu einer inneren Auseinandersetzung.
Als ich schließlich den ersten Workshop durchführte, bekam ich in der Nacht darauf plötzlich Schweißausbrüche und Herzschmerzen – ein Gefühl, das ich zuvor noch nie erlebt hatte. Ich hatte Angst, dass es ein Herzinfarkt sein könnte, und ließ mich von meinem Sohn ins Krankenhaus fahren. Die ganze Nacht über wurde ich untersucht, doch es stellte sich heraus, dass mit meinem Herzen alles in Ordnung war. Erleichtert spazierte ich um 5 Uhr morgens nach Hause.
Dank einiger Videos, die wir während des Probeworkshops aufgenommen hatten, konnte ich mir eine kurze Pause gönnen und den Workshop trotzdem vollständig durchführen.
In der nächsten Nacht hatte ich wieder intensive Träume und lag um 3 Uhr hellwach im Bett. Dann verspürte ich einen inneren Ruf von Sun Myung Moon, hinauszugehen. Also machte ich erneut einen Spaziergang, doch diesmal hatte ich das starke Gefühl, einen anderen Weg zu wählen.
Auf diesem Weg fand ich dann 50,- €.
Ich war überrascht und musste sofort wieder an die Zahl fünf denken. Ich interpretierte es als Zeichen, dass die fünf Verheißungen mit diesem Workshop erfüllt waren.
Diese Erfahrungen zeigen, wie Geschehnisse, Träume und Erleuchtungen zusammenwirken und zu Botschaften werden.
Gott kann uns durch solche Mittel führen und lehren.
Früher hatte ich oft Zweifel und achtete darauf, solche Ereignisse nicht überzubewerten. Doch durch mein intensiveres Gebetsleben hat sich meine geistige Empfindsamkeit weiter geöffnet.
Hinzu kam der Aspekt der Erleuchtung, der eine enorme Intensität besitzt – so sehr, dass ich die Zusammenhänge nicht mehr leugnen kann.
2.9. Phänomen 6: Das wahre Selbst entdecken - die Überraschung des Seins
Viele Menschen in den mystischen Religionen sind auf der Suche nach ihrem wahren Selbst. Die Psychologie gibt uns darauf keine Antwort. Auf dem mystischen Weg gehen wir viel tiefer als in unsere Psyche.
Wir öffnen uns für den Bereich des Geistes.
Nur hier können wir den Kern unseres Wesens finden – nicht im Körper oder Gehirn, nicht im Denken und Fühlen. Das wahre Wesen liegt tiefer. Es ist im Geist oder in der Seele zu entdecken.
Aber was werden wir erfahren, wenn wir ihm begegnen?
Auf der Such im Haus der Seele
Stell dir vor, dein Wesen ist ein Haus, und du gehst auf die Suche. Du hast alle Zimmer durchsucht und dein wahres Selbst nicht gefunden – nicht im Denken, nicht im Fühlen, nicht in deiner Vergangenheit, nicht in deinen Sehnsüchten und Wünschen.
Dann begibst du dich in die Tiefe und betrittst den Keller. Du durchsuchst die Räume deiner unbewussten Schichten. Doch auch dort findest du es nicht – nicht im Trancezustand, nicht in Tiefenhypnose und nicht in Visionen.
Du entdeckst noch eine Treppe, die noch tiefer in deine Seele führt. Hier ist es ganz still. Eine Meditation, in der Denken, Fühlen und Wollen zur Ruhe gekommen sind. Selbst hier findest du dein wahres Selbst nicht, auch nicht, wenn du dich wochenlang in einer Dunkelkammer aufhältst.
Dann entdeckst du noch eine Stufe, die in weitere Tiefe führt. Hier öffnest du dich vollständig für Gott und du findest den innersten Raum deiner Seele. Du hast die Hand an der Türklinke und bist atemlos vor Aufregung.
Was wirst du entdecken, wenn du hinter die Tür blickst?
Was denkst du?
Ein wunderbares, reines, heiliges Selbst, das vor dir erstrahlt? Ein Wesen ohne Schwächen und Probleme? Ein Individuum, das voller Liebe erstrahlt?
Ich sage dir, der erste Teil der Antwort wird enttäuschend sein. Du öffnest die Tür und findest kein individuelles wahres Selbst.
Es gibt kein individuelles wahres Wesen!
Der zweite Teil der Antwort ist besser, als du es dir vielleicht erträumt hast. Hinter dieser innersten Tür wirst du Gott entdecken.
Wenn du sagen würdest: „Ich bin Gott“, ist das richtig.
Aber man sagst das nicht.
Dies war für mich die größte Überraschung des mystischen Weges.
Wie oft habe ich gelesen: „Gott ist im innersten deines Herzens“. Aber wie hätte ich das erfassen sollen? Es blieb lange nur eine Idee, ein Konzept.
Sun Myung Moon erklärt auch, dass das Geistige Gemüt – der innerste Teil unseres geistigen Selbst (Seele) – untrennbar mit Gott verbunden ist und ohne eine Beziehung zu Gott nicht existieren kann.
Man könnte es auch so ausdrücken:
Unser wahres Selbst – der innerste Kern unseres Wesens – ist kein „individuelles“ Selbst mehr.
Es ist ein globales Selbst, das mit Gott und allen Wesen verbunden ist.
Das geistige Gemüt ist der Kern des Geistigen Selbst, es ist der Ort, an dem Gott wohnt.
Das geistige Element des Geistes (Geistiges Gemüt) entsteht nicht ohne eine Beziehung zu Gott.
2.10. Phänomen 7: Einheit mit Gott
Nun möchte ich eine Erfahrung schildern, in der mir Gott einen Vorgeschmack auf das letztendliche Ziel gegeben hat.
Es war im Grunde keine spektakuläre Erfahrung, wie man vielleicht erwarten würde.
Nach einer langen Dürrephase im Gebet entwickelte sich ein leises Gefühl in meinem Herzen.
Es war keine gewöhnliche Emotion, sondern eher eine spirituelle Vibration.
Diese Schwingung löste ein Gefühl der Liebe aus – sobald ich einem Menschen begegnete oder sogar, wenn ein Insekt über meinen Arm krabbelte.
Das Besondere daran war, dass diese Empfindung nicht aus mir selbst kam.
Es war etwas, das nicht „ich“ bin, und doch war es im Innersten meiner selbst zu spüren.
Es war nicht unangenehm, dass es nicht von mir kam. Im Gegenteil – ich fühlte, dass es die größte Wertschätzung war, dass diese Liebe in mir ihren Wohnort gefunden hatte.
Ein Gefühl: „Gott ist in mir eingezogen.“ Ja fast, „Ich bin Gott“, wie Sun Myung Moon es ausdrückt. Doch dieses Gefühl war mit größter Demut und Dankbarkeit verbunden.
Jede kleinste Spur von Überheblichkeit des Egos hätte es sofort zerstört.
Gott wird in dir geboren
Jeder Moment des Lebens war fantastisch.
Das einzige Problem, das sich daraus ergab, war: Wie kann ich diese Liebe jemandem geben? Am liebsten hätte ich die Menschen auf der Straße umarmt. Dann versuchte ich, sie durch ein freundliches Wort weiterzugeben. Doch alles erschien mir zu wenig, ja lächerlich wenig.
Dieses spirituelle Gefühl hielt mehrere Wochen an.
Es war wie eine kleine Flamme, die tief in meinem Herzen stetig brannte. Deutlich wurde, dass diese Vibration der Liebe schnell erlosch, sobald ich mich in Gedanken verlor.
Um sie aufrechtzuerhalten, musste ich daher achtsam bleiben.
Ebenso war es notwendig, eine friedliche und demütige Haltung zu bewahren.
Jede Form von Hochmut und Ärger hätte sie sofort ausgelöscht.
Der ganze Tag wurde zu einer Meditation, einem immerwährenden Gebet – einem Lied der Liebe, das unaufhörlich spielte.
Obwohl diese Erfahrung nicht so spektakulär erscheint, würde ich sie nicht gegen emotional überwältigende mystische Erlebnisse eintauschen.
Diese Erfahrung war vollkommen geerdet und in jedem Moment auf Nächstenliebe ausgerichtet. Sie inspirierte mich ständig dazu, Liebe zu geben, ohne mich zu drängen.
Es war einfach die größte Freude, zu lieben.
2.11. Überblick über den Prozess des inneren Weges
Hier ist ein Überblick über den Prozess und die Phänomene, die wir besprochen haben.
Phase 1: Der Anfang – Sich sammeln: Eine große Veränderung wird vorbereitet
Phase 2: Die Vertiefung – Sich öffnen und geistige Empfindsamkeit entwickeln
Phänomen 1: Die therapeutische Dimension der Meditation – Heilung durch Achtsamkeit und Annahme
Phänomen 2: Die dunkle Nacht der Seele – Der Prozess in eine tiefere Wirklichkeit
Phänomen 3: Selbsterkenntnis und Reinigung des Gemüts – Wie uns Gott verändert
Phänomen 4: Auflösung der Ego-Identifikation – Der Weg zur inneren Freiheit
Phänomen 5: Gottes Führung und Gnade erfahren – Die Geschenke empfangen
Phänomen 6: Das wahre Selbst entdecken – Die Überraschung des Seins
Phänomen 7: Einheit mit Gott – Ein Ausblick
3.1 Übergang von Meditation zu Gebet
Was ist der Unterschied zwischen Meditation und stillem Gebet, und wo liegt der Übergang?
Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Wenn jemand durch seine Meditation die Präsenz Gottes erlebt oder sogar die Einheit mit Gott erlangt – wie etwa Buddha –, hat er dann gebetet oder meditiert?
Man könnte dies anhand des Ziels der Meditation unterscheiden:
- Wer mit der Absicht, Gott zu begegnen, in eine Tiefenmeditation eintritt, kann dies als Gebet verstehen.
- Wer hingegen meditiert, um Stress abzubauen, würde dies eher als Meditation bezeichnen.
Die innere Haltung des Meditierenden oder Betenden scheint dabei entscheidend zu sein.
Wenn jemand seine Hingabe in die Tiefenmeditation als Hinwendung zu Gott und Ausdruck der Liebe zu Gott versteht, dürfen wir es sicher als Gebet bezeichnen.
Daher kann jemand, der Meditation als einen Weg zu Gott sieht, sie auch als stilles Gebet verstehen.
Ich möchte hier noch einmal betonen, dass der Weg zu Gott nicht nur aus Gebet oder Meditation allein besteht, sondern aus einem Leben in dieser Geisteshaltung – indem wir danach streben, aus wahrer Liebe zu leben.
Dazu gehören:
- Die Praxis der Nächstenliebe,
- Die Ausrichtung auf eine ethische Lebensweise,
- Eventuell auch Sakramente,
- Und nicht zuletzt die inneren Prozesse wie die Reinigung des Herzens.
Betrachten wir Gebet und Meditation als reine Methoden, dann können wir Praktiken, die direkt zum Gebet im Geiste führen, als Gebetsmethoden einordnen.
Für mich persönlich war das Herzensgebet aus der christlichen Tradition eine große Hilfe. Es unterstützte meine zuvor praktizierte Zen-Meditation, die ich bereits als vollständige Hingabe an Gott verstand, auf methodische Weise.
3.2. Das Gebet im Geiste
Die christlichen Glaubensväter bezeichnen das Gebet höherer Stufe, das über das gesprochene Gebet hinausgeht und ohne Gedanken oder Bilder stattfindet, als „Gebet im Geiste“ – ein Gebet, das zur ständigen Gottesgegenwart führt.
Eine konkrete Form, die zum Gebet im Geiste führen kann, ist das Jesusgebet.
„Gebet im Geist“ (κατὰ πνεῦμα προσευχὴ)
- Der Ausdruck stammt aus der Bibel, insbesondere aus Epheser 6,18 („Betet allezeit im Geist“; griech. προσευχόμενοι ἐν παντὶ καιρῷ ἐν πνεύματι).
- Es bezeichnet ein Gebet, das nicht nur äußerlich, sondern mit dem inneren Menschen und in der Kraft des Heiligen Geistes geschieht.
Historischer Hintergrund
Das Jesusgebet wurde im 3. und 4. Jahrhundert in den ersten christlichen Klöstern Ägyptens entwickelt.
Durch die ständige Wiederholung der kurzen Phrase („Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner“) wird eine Sammlung des Geistes bewirkt. Dabei beriefen sich die Mönche auf 1. Thessalonicher 5,17 („Betet ohne Unterlass“).
Das Jesusgebet wurde vorwiegend in der Ostkirche praktiziert, insbesondere im Hesychasmus, einer mystischen Bewegung der Ostkirche.
Später wurde es auch im Westen bekannt, besonders durch das Buch Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers (19. Jh.).
Herzensgebet
Das Jesusgebet wird oft synonym mit dem Herzensgebet verwendet und soll in die Tiefe des Herzens führen – ein Gebet, das direkt aus dem Herzen geschieht, ohne Gedanken und Vorstellungen.
Es soll sich von einer zeitlich begrenzten Praxis zu einem Zustand entwickeln, in dem das Herz beständig betet – ein immerwährendes Gebet.
Das Herzensgebet ist methodisch nicht auf die feste Form des Jesusgebets beschränkt, sondern kann auch mit individuell gewählten Worten oder Sätzen praktiziert werden.
Es ist also eine konkrete Gebetsform, die zum Gebet im Geiste führt – ein Zustand, in dem wir die Präsenz Gottes unmittelbar erleben.
Es führt uns in den Nullpunkt-Zustand, der uns für die göttliche Gegenwart öffnet und uns zum Objekt Gottes werden lässt.
3.3. Was geschieht beim Herzensgebet?
Das Herzensgebet verwendet eine kurze Phrase, die im Rhythmus des Atems still im Geist gesprochen wird – ohne bildhafte Vorstellung und ohne darüber nachzudenken.
Es ist ähnlich wie das Praktizieren einer Mantrameditation und kann als eine Form der Kontemplation verstanden werden. Kontemplation ist eine Meditation, die auf einen bestimmten Inhalt ausgerichtet ist.
Die Phrase kann zum Beispiel das Wort „Gott“ oder „Jesus Christus“ sein.
Die drei Phasen des Herzensgebets
Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich mehrere Phasen unterscheiden:
1. Gedanke und Atemrhythmus
- Zu Beginn wird die gewählte Phrase bewusst im Rhythmus des Atems gedacht.
- Durch regelmäßige Wiederholung – beispielsweise über sechs Wochen täglich 30 Minuten – beginnt sich der Prozess zu vertiefen.
2. Automatische Wiederholung
- Nach längerer Praxis scheint das Gebet sich von selbst zu sprechen.
- Es fühlt sich an, als würde der Atem das Mantra wiederholen.
- Der bewusste Gedanke tritt in den Hintergrund, und das Gebet entfaltet eine eigene Kraft.
3. Bewusstsein der göttlichen Präsenz
- Schließlich wird die Phrase selbst zu einem reinen Bewusstsein der göttlichen Gegenwart.
- Der Name Jesus Christus ist nicht mehr ein Gedanke, sondern eine unmittelbare Erfahrung seiner Präsenz.
- Etwas geschieht, das nicht aus einem selbst kommt – es öffnet sich ein geistiger Bereich.
- Die Atmosphäre verändert sich oft plötzlich: Es fühlt sich hell, leicht und voller Liebe an. Häufig wird das Herz tief berührt.
- Diese Phase ist bereits ein Gnadengeschenk Gottes
Das Mantra als Tor zur göttlichen Gegenwart
Das Gebet führt uns zum Bewusstsein dessen, was wir aussprechen – nicht durch Gedanken oder bildhafte Vorstellung, sondern als unmittelbare geistige Erfahrung.
Hier wirkt auch das Prinzip der Wiederherstellung durch Wiedergutmachung:
- Der Prozess erfordert ein geduldiges Durchleben über eine längere Phase, in der sich die Hingabe entwickelt.
- Erst nach einer gewissen Zeit kann die Gnade des erweiterten Bewusstseins empfangen werden.
3.4. Ersetzt das Herzensgebet ein gesprochenes Gebet für andere?
Diese Frage wird öfter an mich heran getragen.
Franz Jalics, ein Jesuitenpater, der zu seiner Lebzeit vielen Menschen das Herzensgebet lehrte, reagierte auf diese Frage folgendermaßen: Er sah das kontemplative Gebet und den Menschen, der diesen Weg geht, auf einer anderen Stufe. Dies meinte er jedoch keineswegs wertend. Vielmehr betonte er, dass jemand, der diesen Weg beginnt, sich voll und ganz darauf einlassen und vertrauen sollte.
Das bedeutet in diesem Zusammenhang, das gesprochene Gebet zunächst auszusetzen. Alles, was zuvor durch das gesprochene Gebet bewirkt wurde, kann in einem direkteren Zugang zu Gott mit Sicherheit ebenso geschehen.
Also beim Übergang in den kontemplativen Weg: Das gesprochene Gebet zunächst aussetzen. So habe ich ihn verstanden.
Ich würde jedoch nicht so weit gehen, grundsätzlich zu empfehlen, das gesprochene Gebet ganz aufzugeben. Dennoch sehe ich es ähnlich: Im kontemplativen Gebet geschieht alles. Es ist ein Vertrauen in eine tiefere Kraft des Gebets jenseits bewusster Gedanken.
Ich möchte nun einige Fragen dazu reflektieren.
Hilft es Menschen, wenn wir lediglich über sie nachdenken?
Über jemanden nachzudenken ist noch kein Gebet. Wenn wir an jemanden denken, um den wir uns vielleicht sorgen, kann das dazu führen, dass wir mit der Person in Kontakt treten und aktiv etwas für sie tun.
Wenn wir jedoch lediglich nachdenken, uns Sorgen machen oder mögliche Lösungen für sein Problem suchen, ohne tatsächlich zu kommunizieren, glaube ich nicht, dass es der Person wirklich hilft.
Wie hilft ein gesprochenes Gebet?
In einem gesprochenen Gebet denken wir nicht nur nach, sondern öffnen uns für eine geistige Kraft, die über unser Denken hinausgeht. Wir sind möglicherweise bewusst bei diesem Menschen und senden ihm Liebe und Segen. Die Kraft des Gebets liegt meines Erachtens in dieser geistigen Verbindung.
Wichtig ist jedoch, wer betet und mit welcher inneren Haltung. Wie tief ist jemand selbst mit der geistigen Kraft verbunden? Wie nah ist er Gott, zu dem er betet?
Wenn wir emotionslos und ohne eigene geistige Grundlage einfach vor uns hinsprechen, dass jemand gesund werden soll, wird das wahrscheinlich keine besondere Wirkung haben. Haben wir jedoch ein intensives Gebetsleben und eine tiefe Herzensverbindung zu Gott, können wir sogar ohne Worte Segen senden.
Bestimmen unsere Wünsche und Gedanken, was Gott tut?
Einen wichtigen Gesichtspunkt möchte ich hier noch erwähnen: Wir können Gott nicht vorschreiben, was er zu tun hat – ebenso wenig, wie er eine Situation zu lösen hat. Das wäre anmaßend. Oft sind Gebete so konkret und fixiert, dass sie die Lösung bereits vorwegnehmen.
Ich habe in der psychologischen Beratung oft erlebt, dass sich Menschen auf eine bestimmte Lösung versteifen und sich damit selbst blockieren. Bessere und oft unerwartete Lösungen erscheinen meist erst dann, wenn wir unsere Fixierung aufgeben.
Natürlich ist es manchmal gut zu wissen, was man sich wünscht, und man darf das auch Gott mitteilen. Doch gleichzeitig sollten wir offenbleiben für seinen Willen. Am Ende meines Gebets steht daher meist: „Aber bitte lenke Du unser Leben und verändere uns, wie Du es willst. Dein Wille geschehe!“
Sehr häufig war ich im Nachhinein positiv überrascht, wie weise Gott gegen meinen vordergründigen Willen gewirkt hat. Auch meine eigene Veränderung hat mich erstaunt. Meine ursprünglichen Zielvorstellungen wären unrealistisch und weit weniger befreiend und beglückend gewesen.
Als Menschen fehlt uns oft die Weitsicht und Weisheit, um zu erkennen, was für jemanden wirklich das Beste ist. Deshalb bevorzuge ich offene Gebete – Liebe und Segen schenken, ohne die Form der Erfüllung zu bestimmen.
Wie geschieht dies im kontemplativen Gebet?
Im kontemplativen Gebet entsteht ein Gebet für andere oft von selbst. Wenn mir jemand wirklich am Herzen liegt – sei es aus Mitgefühl oder aus einem aufrichtigen Wunsch nach seinem Wohlergehen –, dann taucht dieser Mensch im stillen Gebet von allein in meinem Bewusstsein auf.
Ohne dass ich gedanklich etwas tun muss, sendet mein Herz Liebe und Segen zu dieser Person.
In dieser Geisteshaltung lässt sich das gar nicht vermeiden.
Schwieriger wird es, wenn wir für etwas oder jemanden beten wollen, zu dem wir keinen emotionalen Bezug haben. In diesem Fall bleibt die Möglichkeit, das Gebet bewusst zu widmen.
Dafür kann ich mir vor dem Gebet das Anliegen vergegenwärtigen und mich innerlich darauf ausrichten. Anschließend gebe ich mich mit aller Hingabe der inneren Zuwendung zu Gott hin und vertraue darauf, dass es wirkt.
Ein Beispiel dafür ist das folgende einstimmende Segensgebet, das ich morgens vor der Kontemplation spreche, um mein Gebet anderen zu widmen:
Segensgebet
Möge unser Leben und unsere Gebete Segen sein,
für unsere Ahnen,
für unsere Kinder,
für unsere Familien,
für unsere geistigen Kinder,
für all unsere Geschwister,
für unsere geliebten Wahren Eltern,
für die Menschen in Augsburg (unserer Region),
für alle Menschen und alle Wesen.
Möge die Sonne der Liebe für alle scheinen.
4.1. Errungenschaften einzelner Religionen teilen
Im Folgenden möchte ich über den möglichen spirituellen Gewinn durch Jesus und die Wahren Eltern sprechen.
Dabei könnte es den Anschein erwecken, als würde ich die interreligiöse Perspektive verlassen und mich wieder hinter die Mauern einzelner Religionen zurückziehen. Deshalb behandle ich dieses Thema in einem gesonderten Kapitel.
Aus meiner Sicht bleibe ich jedoch innerhalb einer interreligiösen Perspektive. Warum sollten wir nicht gemeinsam über den Glauben an bestimmte Persönlichkeiten und die einzigartigen theologischen Errungenschaften einzelner Religionen sprechen?
Haben wirklich Buddhisten keinen Jesus, Christen keinen Buddha und Muslime keine Wahren Eltern?
In einem bereits erwähnten Zitat spricht Sun Myung Moon davon, dass er in der geistigen Welt erkannt habe, dass die Religionsgründer und viele Heilige der Geschichte Freunde sind – alle gehören zum Stamm Gottes.
Wenn alle Religionen von Gott initiiert sind – wovon ich überzeugt bin –, dann sind es wir Menschen, die Mauern zwischen den Religionen errichten, nicht Gott. Doch Mauern sind nicht unendlich hoch.
Ab einer bestimmten Höhe werden sie überwunden.
Überwindung religiöser Grenzen
Ist Jesus nur für die Christen gekommen oder für die ganze Menschheit?
Hat Buddha jemals gesagt, dass seine Lehre ausschließlich für Inder bestimmt sei und anderen verschlossen bleiben müsse?
Natürlich sind geistige Errungenschaften für die gesamte Menschheit gegeben.
Zu verschiedenen Zeiten wurde durch außergewöhnliche Persönlichkeiten etwas Neues geistig eröffnet – etwas, das zuvor nicht existierte und für frühere Generationen verschlossen war.
Dies waren Erfolge Gottes und der Menschheit.
Doch dann kamen Menschen und spalteten zwischen denen, die an das Eine glauben, und jenen, die etwas anderes glauben.
Diese Spaltungen sind menschengemacht.
Wenn wir die Mauern in unserem Kopf auflösen, erkennen wir, dass wir alle Brüder und Schwestern sind – vereint auf dem Weg zu Gott.
Seit Jesus wurde etwas im Himmel geöffnet, das für alle Menschen errungen wurde.
Dennoch heißt es oft, nur wer daran glaubt, könne davon profitieren – eine Abgrenzung, die erneut von Menschen geschaffen wurde.
Doch ist diese Trennung vor Gott wirklich absolut?
Es scheint vielerorts noch ein Tabu zu sein, sich mit den geistigen Errungenschaften anderer Religionen zu beschäftigen oder etwas anzunehmen, das aus einer vermeintlich „fremden“ oder gar „feindlichen“ Tradition stammt.
Was geschieht, wenn wir die Mauern ignorieren?
Was wäre, wenn wir die Grenzen zwischen Religionen einfach überschreiten?
Manch einer würde sagen: „Spätestens bei den Sakramenten hört es auf.“
Doch es gibt christliche Geistliche, die zugleich Zen-Meister sind.
Ich kenne einen Katholiken, der von den Wahren Eltern gesegnet wurde, und ein Mitglied der Vereinigungsbewegung, das sich bei den Mormonen taufen ließ.
Ist es vor Gott wirklich eine Todsünde, an einem Sakrament einer anderen Religion teilzuhaben?
Göttliche Einheit oder menschliches Chaos?
„Was für ein Durcheinander! Wo kämen wir da hin?“ – so mögen manche denken.
Aber was würde Gott zu diesem „Durcheinander“ sagen?
Würde er uns, Christen mit Muslimen, Hindus mit Juden, Hand in Hand vor seiner Tür stehend, tatsächlich abweisen?
Ich verstehe, dass nicht jeder diese Überlegungen teilt.
Es gibt durchaus berechtigte Ängste – etwa, dass unerfahrene Menschen in die Irre geführt werden könnten.
Doch in einer modernen, globalisierten Welt lassen sich Grenzen nicht mehr dauerhaft aufrechterhalten – auch nicht zwischen Religionen.
Anstatt gegen diese Entwicklung anzukämpfen, können wir sie bewusst mitgestalten.
Wir erreichen nur gemeinsam das Ziel
Das bedeutet nicht, dass jeder alles können muss.
Ein Team lebt von unterschiedlichen Stärken.
Es ist nicht notwendig, dass alle dieselben Fähigkeiten besitzen – vielmehr sollten wir unsere Stärken gegenseitig ergänzen, um ein größeres Ziel zu erreichen.
Gottes Ziel ist nicht, eine Religion zum Erfolg zu führen, sondern eine friedliche Welt, in der Menschen in Liebe mit ihm verbunden sind.
In den folgenden Seiten werde ich mein persönliches Glaubensverständnis und meine Erfahrungen schildern, wie ich sie in Verbindung mit dem Namen "Wahren Eltern" erlebt habe.
4.2. Die Bedeutung von Christus und den Wahren Eltern auf dem spirituellen Weg
Das christliche Verständnis besagt, dass Jesus durch seinen Leidensweg und seinen Tod am Kreuz die Wiedergutmachung für die Sünden der Menschheit geleistet hat.
Dadurch können Menschen, die an Jesus glauben, von ihren Sünden befreit werden. Sie werden somit auch von einem Leid befreit, das sie nach dem Prinzip der Wiederherstellung durch Wiedergutmachung eigentlich selbst tragen müssten.
Praktisch bedeutet dies, dass sie auf dem Weg zu Gott weniger Leiden erfahren und schneller zur Einheit mit Gott gelangen können als Menschen, die ohne Jesus diesen Weg gehen.
Die besondere Wirkung des Jesusgebets
Übertragen auf das konkrete Gebet bedeutet das, dass das Jesusgebet wirkungsvoller sein sollte als ein Gebet mit einer anderen Phrase.
Der Name „Jesus Christus“ führt uns im Jesusgebet zur Bewusstwerdung seiner Gegenwart. In der geistigen Einheit mit Jesus – die weit über einen rein mentalen Glauben hinausgeht – empfangen wir die Gnade, die durch seinen Kurs errungen wurde.
Die Bedeutung des Namens „Wahre Eltern“
Nach dem Verständnis der Vereinigungsbewegung wurden Adam und Eva als Paar und als Urvorfahren der Menschheit von Gott erschaffen.
Gemeinsam bildeten sie das vollkommene Abbild Gottes – nicht Adam allein.
Auch der zweite Adam, Jesus Christus, sollte idealerweise als Ehepaar eine sündenlose Menschheitsgeschichte nach dem Sündenfall neu beginnen.
Die Kreuzigung war daher nicht das endgültige Ziel von Jesu Kommen, sondern das Ergebnis des Unglaubens der Israeliten seiner Zeit. Dadurch blieb die göttliche Vorsehung unvollständig. Die Auferstehung war lediglich die geistige Erfüllung, während die Errichtung des Himmelreichs auf Erden noch aussteht.
Da auch eine geistige Neugeburt ohne Mutter nicht möglich ist, übernahm der Heilige Geist die Rolle der eingeborenen Tochter Gottes und der wahren Mutter der Menschheit.
Die Hochzeit des Lammes, die in der Bibel angekündigt wurde, hätte zwischen dem zweiten Adam und der zweiten Eva stattfinden sollen.
Die Mission von Sun Myung Moon und Hak Ja Han
Am Ostersonntag 1936 hatte der 16-jährige Sun Myung Moon eine visionäre Begegnung mit Jesus, in der ihm die Mission übertragen wurde, das unvollendete Werk fortzuführen. Sein wichtigster Auftrag bestand darin, die von Gott vorbereitete wahre Eva zu finden und damit die Hochzeit des Lammes zu ermöglichen.
1943 wurde Hak Ja Han in Korea als einziges Kind einer besonderen religiösen Familie geboren. Es gab zahlreiche Offenbarungen über ihre Geburt, die verkündeten, dass sie als erstmals eingeborene Tochter Gottes erscheinen würde.
1960 fand schließlich die Hochzeit des Lammes statt, in der Sun Myung Moon, der Jesus repräsentierte, und Hak Ja Han vereint wurden. Damit existierten zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte Wahre Eltern – ein wiederhergestelltes göttliches Paar, das das verlorene Erbe von Adam und Eva erneuerte.
Während Jesus vor 2000 Jahren als Sohn Gottes kam, in dem der Vater wohnte, gibt es heute Wahre Eltern, in denen sowohl Gott Vater als auch Gott Mutter – die weibliche Seite Gottes – gegenwärtig sind.
4.3. Die Verbindung zu Gott durch seine Inkarnation
Warum hilft uns die Verbindung zur Inkarnation Gottes, um schneller zu Gott zu finden?
Christliche Anschauungen
Christlich ausgedrückt kann sich die Seele leichter an Gott binden, weil sie in Christus ein lebendiges und greifbares Abbild Gottes erkennt. Durch seine Inkarnation wird Gott für den Menschen sichtbar, berührbar und erfahrbar.
In Jesus ist Gottes Liebe konkret geworden.
Mystiker wie Johannes vom Kreuz oder Meister Eckhart lehren, dass Christus als „Brücke“ oder „Weg“ wirkt, der die unendliche Kluft zwischen Gott und Mensch überwindet.
Aspekt der Blutslinie im Göttlichen Prinzip
In der Vereinigungs-Theologie wird zudem der Aspekt der Blutslinie gelehrt, nach dem der Mensch sich einerseits durch ein Sakrament und andererseits durch einen Wiederherstellungsprozess von der sündigen Linie, die vom Sündenfall herrührt, befreien kann. Das entspricht dem Prozess, der in der biblischen Metapher der Anpfropfung ausgedrückt wird. Die vollständige Erlösung und Befreiung vom sündigen Wesen geschieht durch eine geistige Neugeburt durch sündenlose geistige Eltern.
Die Gnade, die Wiedergutmachungsleistung zu ererben
Den bereits erwähnten Punkt, dass Jesus die Wiedergutmachung für die Menschheit – einschließlich der Nicht-Christen – geleistet hat, habe ich bereits dargelegt.
Darüber hinaus haben die Wahren Eltern außergewöhnliche Wiedergutmachung auf sich genommen. Hier seien nur einige Beispiele genannt: Sun Myung Moons mehrjährige Gefangenschaft in einem kommunistischen Todeslager, Folter, Verleumdung und fünf weitere ungerechtfertigte Haftstrafen sowie unzählige geistige Kämpfe, die er und seine Frau Hak Ja Han durchgerungen haben.
Die Gnade, die durch diese Wiedergutmachung entstanden ist, können wir durch eine geistige Verbindung ererben.
Der Aspekt der Bindung
Ein weiterer Aspekt einer Bindung. Psychologisch gesehen besteht zwischen Eltern und Kindern eine Bindung, die als emotionales Band Sicherheit und Nähe vermittelt. Je tiefer und sicherer diese Bindung, desto mehr Vertrauen und emotionale Verbundenheit kann sich entwickeln.
Bindung erfordert Einlassen und Öffnen. Besonders deutlich wird sie in Momenten von Nähe, aber auch bei Trennungen. Eine Trennung von einer wichtigen Bindungsperson kann Trauer auslösen, während das Fehlen einer Bindung dazu führen kann, dass eine Trennung emotional unbedeutend bleibt.
Das Ziel der Religion – die Rückverbindung zu Gott – könnte man auch als Wiederherstellung der Bindung, des emotionalen Bandes zwischen Gott und Mensch, verstehen.
Für Menschen ist die Wiederherstellung der Bindung zu einem unsichtbaren Gott schwierig. Durch einen Mittler, der diese Bindung bereits vollendet hat, können wir uns leichter wieder mit Gott verbinden. Ähnlich sollten Kinder Gottes Liebe auf natürliche Weise über liebende Eltern erfahren, um später selbst eine Beziehung zu Gott zu entwickeln. Die Herzenserfahrung und Bindung zu den Eltern ermöglicht es den Kindern, die Bindung der Eltern zu Gott auf natürliche Weise zu ererben.
Überleitung
Dies waren einige kurze Betrachtungen über den Wert der Inkarnation Gottes für unseren inneren Weg zu ihm.
Glaubensinhalte können uns Orientierung geben, doch benötigen wir auch eine spirituelle Praxis, die es uns ermöglicht, den inneren Prozess tatsächlich zu vollziehen.
Rituale oder Sakramente, wie sie in verschiedenen Religionen gespendet werden, können eine tiefgreifende spirituelle Wirkung entfalten – allerdings geschieht dies häufig nur auf einer unbewussten spirituellen Ebene
Doch das allein führt nicht notwendigerweise zu einer tiefgreifenden Veränderung unseres gesamten Wesens und Lebens. Der eigentliche Wandel muss sich in allen Ebenen unseres Wesens vollziehen. Diesen Weg kann uns niemand abnehmen – wir müssen ihn selbst, bewusst und schrittweise, innerlich vollziehen.
Im Folgenden möchte ich von meinen Gebetserfahrungen berichten.
4.4. Meine Erfahrungen im Herzensgebet mit dem Namen „Wahre Eltern“
Als ich das Jesusgebet kennenlernte, lag es für mich nahe, es auf mein persönliches Glaubensverständnis anzuwenden und es auch mit den Namen ‚Wahre Eltern‘, ‚Wahrer Vater‘ oder ‚Wahre Mutter‘ zu versuchen.
Mein erstes Mantra war ‚Wahrer Vater‘.
In den ersten Wochen des Herzensgebets mit diesem Namen geschah etwas Sonderbares.
Gegen Ende der Meditationszeit verlor ich für einen kurzen Moment das Bewusstsein. In diesem Augenblick erschien mir ein Gesicht vor Augen. Kurz darauf war ich wieder hellwach. Das Gesicht war so nah, dass ich nur die Augen und die Nase sehen konnte.
Zunächst war mir nicht klar, um wen es sich handelte, obwohl das Bild noch deutlich in meinem Gedächtnis blieb. Doch plötzlich erkannte ich es: Es war das Gesicht von Sun Myung Moon im Alter von 16 Jahren.

Dieses Erlebnis überraschte mich, da ich zuvor nie eine Erscheinung hatte.
Ich deutete es damals als Ermutigung, meinen Weg fortzusetzen. Später folgten einige besondere Träume mit ihm, von denen ich einige in diesem Buch beschrieben habe.
Diese Zeichen auf meinem Weg empfinde ich als Ausdruck einer himmlischen Führung.
Das Mantra „Wahre Mutter“
Mein Verhältnis zur Wahren Mutter war in der Realität nicht immer einfach. Ich habe sie nur als öffentliche Person erlebt, die große Verantwortung für die Vorsehung trägt, und nicht persönlich als liebende Mutter.
Doch in den Momenten, in denen ich im Gebet zum Bewusstsein der Wahren Mutter durchdrang, spürte ich plötzlich eine strahlende, reine mütterliche Liebe.
Diese Erfahrung hat meine innere Beziehung zu ihr gewandelt.
Das Mantra „Wahre Eltern“
Die Bezeichnung „Wahre Eltern“ wirkt auf mich neutraler und weniger durch meine persönlichen Erfahrungen mit bestimmten Personen geprägt.
„Wahre Eltern der Menschheit“ ist ein universeller Begriff, der die Inkarnation Gottes als himmlische Eltern – himmlischer Vater und himmlische Mutter – bezeichnet. Aus meiner Sicht ist er so allgemein gültig, dass er auch religionsübergreifend verwendet werden kann.
Ein Gebet mit diesen Worten, das mich in das Bewusstsein der Präsenz der Wahren Eltern führt, öffnet mich auf sehr direkte und zugängliche Weise für die Liebe Gottes.
Wissenschaftliche Perspektive
Ich bin eher ein wissenschaftlich denkender Mensch als ein Gläubiger. Der Glaube an Jesus und die Wahren Eltern war für mich immer eine Herausforderung.
Heute kann man sich vergleichsweise leicht mit einer idealisierten Darstellung von Jesus identifizieren. Doch zu seiner Lebzeit war es eine viel größere Herausforderung, an ihn zu glauben. Die Gesellschaft stellte sich geschlossen gegen ihn. Es erforderte enormen Mut, sich von der Mehrheitsmeinung zu lösen und sich mit ihm zu solidarisieren – trotz der absehbaren negativen Konsequenzen.
Ähnlich war und ist es mit den Wahren Eltern in ihrer Zeit.
Aus meinen eigenen Zweifeln und aus wissenschaftlichem Interesse habe ich die mystische Erfahrung mit dem Namen der Wahren Eltern zu einem Prüfstein gemacht.
Die zentrale Frage lautete:
„Führt uns die Verbindung zu den Wahren Eltern tatsächlich schneller oder leichter in die Nähe Gottes als ohne sie?“
Ich habe für mich persönlich eine Antwort auf diese Frage gefunden.
Durch die bewusste Ausrichtung meines Geistes auf die Wahren Eltern habe ich eine rasche innere Transformation erlebt.
Innerhalb von nur vier Jahren gelangte ich zu den beschriebenen mystischen Erfahrungen – eine Gnade, die nur wenigen in so kurzer Zeit zuteilwird. Mehr noch, mir erschloss sich ein tieferes Verständnis des inneren Weges zu Gott.
Diese besondere Gnade kann ich nur auf meine Verbindung zu den Wahren Eltern zurückführen. Jeder, der mich kennt, wird bestätigen, dass es nicht an meinem außergewöhnlichen Glauben, einem besonders intensiven religiösen Leben, an Askese oder an meiner eigenen Reinheit liegen kann.
Nun stellt sich die Frage, ob dieses Ergebnis auch für andere Menschen reproduzierbar ist, wenn sie diese mystische Praxis ausüben.
Wissenschaftlich bewiesen wäre es damit noch nicht, doch es könnte mehr Menschen ermutigen, sich diese Praxis zu eigen zu machen, um für sich selbst herauszufinden, ob sie ihnen hilft, auf ihrem Weg zu Gott spürbar schneller voranzukommen.
4.5. Eine Kurzfassung über den mystischen Weg
Dieses Kapitel möchte ich mit einer vereinfachten Kurzfassung über den inneren Weg zu Gott beschließen. Diese Einsicht hat sich mir einmal in einer Meditation eröffnet und wurde anschließend in Worte gefasst.
Sehr kurz beschrieben könnte man den inneren Gebetsweg zu Gott folgendermaßen zusammenfassen:
Wir lassen alles los - unser Denken, Fühlen und Wollen - bis wir den Nullpunkt-Zustand erreichen. Hier bleibt nur reines Sein, reines Bewusstsein übrig.
Wenn wir in dieser Leere verweilen, frei von Bildern und Inhalten, öffnet sich unser Geist für die Ahnung, dass in diesem Nichts Gott präsent ist.
Wir können Gott nicht direkt wahrnehmen, da er reiner Geist ist. Seine Präsenz kann nur durch das reine Bewusstsein erfasst werden - jedoch nicht durch eine Wahrnehmung im herkömmlichen Sinne.
Buddha sagte: „Gedanken sind leer, Gefühle sind leer, selbst Wahrnehmungen sind leer.“
In der Bewusstwerdung von Gottes Präsenz geschieht etwas Wunderbares:
In der Erfahrung der Leere erkennen wir, dass wir Gott im Innersten unseres Herzens unermesslich lieben - und Gott zu lieben bedeutet, alles zu lieben.
Diese Liebe wird dann in unserem Herzen spürbar.
Daraufhin folgt eine weitere tiefgreifende Erkenntnis: Die „Liebe für alles“, die wir in unserem Herzen empfinden, ist Gott selbst. Gott manifestiert sich in uns.
Im Grunde ist dies ein einfacher Weg.
Das, was ihn für uns Menschen schwierig macht, ist die notwendige Wiederherstellung durch Wiedergutmachung auf dem Weg zum Nullpunkt-Zustand.
Dieser Prozess kann nicht ohne Leid vollzogen werden.
Buddha sprach von der Lehre des Leidens und der Überwindung des Leidens. Jesus hat uns aufgefordert unser Kreuz auf uns zu nehmen.
Im Christentum wird der Leidensweg Jesu als Wiedergutmachung für unsere Sünden verstanden. Etwa 800 Jahre nach Buddha eröffneten die ersten christlichen Mönche in Ägypten einen inneren Weg, der eine Abkürzung darstellt: ein Gebet, das durch das Anrufen von Jesus Christus die Gnade Jesu ererben lässt.
Dadurch profitierten sie von der Wiedergutmachung, die Jesus für die Menschheit geleistet hat.
Mit dem Kommen der Wahren Eltern - so steht es im Göttlichen Prinzip - wurde die göttliche Vorsehung auf eine neue Stufe gehoben.
Durch das Anrufen des Namens „Wahre Eltern“ kann der Betende – nach ihrem Erscheinen und aufgrund ihrer Wiedergutmachung – von den Segnungen dieses Zeitalters profitieren und schneller zu Gott durchdringen.
Davon kann heute jeder Mensch auf seinem inneren Weg profitieren.
Schlusswort zu Teil 2
Damit endet sowohl die theoretische Betrachtung als auch der Erfahrungsbericht über den inneren Weg des Gebets.
Nun folgt das Wesentliche – die Antwort auf die Fragen:
- Wie finde ich zu Gott?
- Was ist für mich der erste oder nächste Schritt?
- Welche tägliche Praxis führt zu einer eigenen spirituellen Erfahrung?
Es geht um eine Praxis, die unabhängig von der Religionszugehörigkeit ist und das persönliche Glaubensleben unterstützen und bereichern soll.
Jeder kann diese mystische Praxis innerhalb der Religion ausüben, in der er verwurzelt ist. Sie unterstützt einen universellen inneren Transformationsprozess im Menschen.
Sie ist ebenso geeignet für Menschen ohne religiösen Hintergrund, die einen gangbaren und praktischen Weg zur Gotteserfahrung suchen.